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Agentenfähigkeit.
Nach sechs Monaten in Vancouver hatte sie plötzlich ein Heißhunger auf Wachskürbissuppe befallen, was zu einem spontanen Ausflug nach Chinatown geführt hatte. Nicht das alte in der Innenstadt, sondern das neue draußen am Stadtrand. Als Ergebnis einer Feilschrunde mit einem Gemüsehändler hatte Olivia sich im Besitz eines Wachskürbisses von der Länge ihres Arms wiedergefunden. Danach hatte der Ladenbesitzer noch ein wenig mit ihr geplaudert und sie gefragt, wie lange sie schon in Vancouver sei. »Sechs Monate«, hatte Olivia geantwortet, worauf er höflich gefragt hatte, aus welchem Teil Chinas sie denn stamme. Statt zu versuchen, ihm alles über ihre Eltern darzulegen, hatte sie nur gesagt: »Beijing.« Das hatte er ihr ohne jeden Argwohn abgenommen, und Leute, die um sie herumgestanden und sich in das Gespräch eingeschaltet hatten, hatten sie als rein chinesische Frau aus China akzeptiert.
Im Laufe ihres zweiten Jahres war sie dann in ein Mietshaus in einem überwiegend chinesischen Viertel gezogen und nahezu problemlos als Doktorandin aus Beijing durchgegangen. Einer Enttarnung am nächsten kam sie, als jemand eine – wie sie hoffte, schmeichelhafte – Bemerkung über ihr ungewöhnliches Aussehen machte. Aber Yao Ming hörte vermutlich auch eine Menge Kommentare über seine ungewöhnliche Größe, und dennoch zweifelte niemand daran, dass »Big Yao« Chinese war.
Nach einer Weile war sie von einer Frau, die im britischen Konsulat in Vancouver arbeitete, zum Tee (nach englischer Art) eingeladen worden. Ihre Gastgeberin hatte sich, wiederum auf sehr vornehme und abzuleugnende Art, erkundigt, wie alles so laufe und ob ihre Planung immer noch einen Doktortitel von St. Antony’s vorsehe oder ob sie sich auch vorstellen könne, sich erst ein wenig Zeit zu nehmen, um in der Arbeitswelt Erfahrungen zu sammeln. Olivia hatte das nicht ausgeschlossen, und danach waren die Verabredungen zum Tee zu einer festen Einrichtung geworden und hatten, während sie in den Semesterferien zu Hause war, Unterredungen beim Mittagessen in netten Londoner Restaurants zur Folge gehabt.
Sie hatte angefangen, bestimmte Dinge nicht zu tun, die es ihr, hätte sie sie getan, unmöglich gemacht hätten, in Zukunft für den MI 6 zu arbeiten. Sie hatte sich keine Facebookseite erstellt. Sie hatte keine Fotos von sich auf Flickr gepostet. Sie war nicht nach China gereist, was bedeutete, dass die dortige Regierung keine Fotos von ihr, keinen Beweis für ihre Existenz hatte. Diese Dinge hatte sie aus dem einfachen Grund nicht getan, weil die MI 6-Spitzel, die immer wieder bei ihr aufkreuzten, sie jedes Mal fragten, ob sie irgendetwas davon getan habe. Und wenn sie verneinte, wurde das stets mit einem beeindruckten Hochziehen der Augenbrauen quittiert.
Dann also nach London und zum MI 6, wo sie zwei Jahre lang als Analytikerin geschuftet, ihre neue Identität aufgebaut und Berichte über verschiedene Themen verfasst hatte. Eins davon war der walisische Terrorist Abdallah Jones gewesen, für den Olivia sich besonders interessierte, weil er die Bridgepartnerin ihrer Großtante in einem Bus in Cardiff in die Luft gejagt hatte.
Er war (wie sie erfuhr) karibischer Herkunft, also ein Nachkomme von Sklaven, die in die Karibik gebracht worden waren, um auf den Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Seine Kindheit hatte er in einem Armenviertel in Cardiff verbracht, wo er heroinabhängig geworden war. Von dieser Sucht war er mit der Hilfe eines ortsansässigen Mullahs losgekommen, der ihn zum Islam bekehrt hatte. Befreit von den chemischen Fesseln, hatte er an der Universität von Aberystwyth einen Bachelor in Geowissenschaften gemacht, gefolgt von einem Masterstudium an der Colorado School of Mines, wo er sich eine verdammte Menge Wissen über Sprengstoffe angeeignet zu haben schien. Wieder zurück in Wales, hatte er sich einer radikalen Islamistenzelle angeschlossen und in Wales und den Midlands erste Erfahrungen mit Sprengstoffattentaten auf Busse gesammelt, bevor er nach London ging und zu Anschlägen auf U-Bahn-Stationen aufstieg. Nachdem diese Aktivitäten ihn zum Gegenstand ausgeprägter polizeilicher Neugier gemacht hatten, war er nach Nordafrika gegangen und von dort nach Somalia, Pakistan (dem Schauplatz seiner größten Einzeltat, 111 Tote bei einem Anschlag auf ein Hotel), Indonesien, auf die Südphilippinen, nach Manila, Taiwan und jetzt – sonderbarerweise – nach Xiamen. All diese Schritte waren absolut
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