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Jahren jedoch nach Hongkong und schließlich, um einen akademischen Posten anzunehmen, nach London umgezogen, wo er dann Olivias Mutter, eine Logopädin, geheiratet hatte. Die drei Geschwister waren mit Englisch und Mandarin aufgewachsen. Olivia hatte in Oxford ostasiatische Geschichte studiert. Und da es zum guten Ton gehörte, sich wenigstens eine Sprache anzueignen, die man noch nicht beherrschte, hatte sie zwei Jahre Russisch gelernt.
Da sie sich gerne in einem eher internationalen Ambiente aufhielt, hatte sie viel Zeit in der Studentenbar am St. Antony’s College verbracht, und dort war es auch, wo sie zum ersten Mal von einem Mitglied der Fakultät angesprochen worden war, das auf eine jederzeit abzuleugnende und vornehme – fast unterschwellige – Art andeutete, dass (ähem) der MI 6 von ihrer Existenz wisse. Obwohl geschmeichelt, hatte sie von dem Angebot – falls es überhaupt eins war – abgelenkt, indem sie erwähnte, sie habe vor, an der University of British Columbia den Master in Internationalen Beziehungen zu machen, um dann eventuell zur Promotion ans St. Antony’s zurückzukommen.
An dieser Stelle hatte der Professor ihr einen Drink ausgegeben. Nachdem er einige Minuten hatte verstreichen lassen, hatte er ihr einen skurrilen Vorschlag unterbreitet. Die chinesische Gemeinde in Vancouver sei riesig: eine Stadt innerhalb einer Stadt, so dicht bevölkert, dass das Auftauchen einer unbekannten, chinesisch aussehenden und handelnden Person in einem Laden oder Wohnblock keine besondere Aufmerksamkeit erregen würde. Olivias Erinnerung an die Unterhaltung war etwas verschwommen – sie vertrug einfach nicht viel –, aber sie war sich ziemlich sicher, dass er den Begriff »Agenten-Disneyland« benutzt hatte. Und als sie um eine Erklärung gebeten hatte, hatte er ihr erläutert, dass ein Mädchen wie Olivia an einen Ort wie Vancouvers Chinatown gehen, sich als Chinesin ausgeben und dann sehen könne, ob irgendjemand die Täuschung aufdecke. Das würde ihr ein Gefühl dafür geben, was es bedeuten würde, als verdeckte Agentin in China zu arbeiten, wäre dabei aber so sicher und so künstlich wie Disneyland.
Die Vorstellung von Olivia als MI 6-Agentin hatte zunächst etwas Komisches gehabt, und dennoch hatte sie zugeben müssen, dass ein Teil ihrer Persönlichkeit davon durchaus angesprochen wurde, nämlich der, der gerne bei Amateurtheaterproduktionen mitwirkte – neben der sporadischen und halbherzigen Teilnahme am Hockey- und Kung-Fu-Training ihre wichtigste Freizeitaktivität.
In einem Dutzend verschiedener Aufführungen hatte sie sechzehn Sprechrollen gespielt. Die Zahlen sahen komisch aus, aber sie hatte oft so kleine Rollen bekommen, dass sie mit einem Kostümwechsel mühelos mehr als eine im selben Stück hatte spielen können. Mit der Zeit und wachsender Erfahrung war sie in kleinen Theaterproduktionen rund um Oxford zur Rolle des Kumpans oder der Freundin aufgestiegen. Jenseits davon hatte sie in der Theaterwelt keine Ambitionen. Immerhin war ihr aber klargeworden, dass die Entscheidungen der Regisseure bei der Besetzung die Art widerspiegelten, wie Leute im Allgemeinen und Männer im Besonderen sie betrachteten. Männer, die neu in ihren Dunstkreis kamen, ignorierten sie zunächst einmal. Manche begannen dann, ihr neugierige Blicke zuzuwerfen. Danach kehrten sie entweder dazu zurück, sie zu ignorieren, oder ließen sie auf irgendeine Art wissen, dass sie sie schön fanden; dass das keineswegs offensichtlich sei und dass sie irgendeine Belohnung oder Anerkennung verdienten, weil sie so genial gewesen seien, das zu bemerken. Von unterschiedlichen Regisseuren war sie, je nachdem wo die Männer sich in diesem Kontinuum der Wahrnehmung von Olivias Gesicht einordneten, mit größeren oder kleineren Rollen bedacht worden, aber Starrollen waren ihr aus genanntem Grund stets versagt geblieben.
Kleindarsteller, Freundinnen und Kumpane waren genau das, was man im Agentenspiel brauchte. James-Bond-Typen hatten keine Chance.
Es gab vielleicht ein halbes Dutzend Fotos auf der Welt – zumeist unbemerkt mit dem Handy aufgenommene Schnappschüsse –, auf denen Olivia wirklich schön aussah. Und sie hatte die Erfahrung gemacht, dass sie Leute dazu bringen konnte, diese Schönheit zu suchen und schließlich zu finden, indem sie so aussah, als erwartete sie das. Ebenso gut konnte sie sie dazu bringen, sie nicht zu entdecken, indem sie anders aussah. Das war in ihren Augen eine gute
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