Error
Fensterbank, machte eine Schulterrolle und landete in einer tiefen Hocke auf dem Boden des Büros. Mit denselben Bewegungen nahm er sich eine Kalaschnikow von der Schulter und hielt sie schussbereit vor sich.
Bereit, auf sie zu schießen. Er zielte nämlich genau auf ihr Gesicht. Das wusste sie, weil sie ihm durch Kimme und Korn in die Augen sah. Die seinen waren blau.
Er hatte etwas gerufen. Durch ihre Verwirrung und Furcht und das Klingeln in ihren Ohren hindurch brauchte sie einen Moment, um es zuzuordnen: » Ne dvigaites’! «, was auf Russisch eine grob vertrauliche Art war, »Keine Bewegung!« zu sagen. Nachdem er seinen Fehler bemerkt hatte, fügte er auf Englisch »Freeze!« hinzu.
» Ne streliaite! «, sagte sie, etwas förmlicher: »Nicht schießen!«
Drei Sekunden lang verharrten die beiden in dieser Reglosigkeit. Dann atmete der Russe aus und ließ den Lauf seiner Waffe sinken, bis er auf den Boden zeigte.
Olivia wirbelte durch die leere Türöffnung und rannte los.
Die Straße außerhalb von Yuxias Lieferwagen wurde sehr hell und genauso schnell sehr dunkel, und dann polterte etwas auf ihn herab, was sich wie der gesamte Inhalt des Wohnblocks anhörte und anfühlte.
Sobald Yuxia durch die Windschutzscheibe mehr als eine Armeslänge weit sehen konnte – was ein paar Sekunden dauerte –, trat sie das Gaspedal durch. Das Fahrzeug machte einen Satz, nicht einmal einen Meter weit, und blieb abrupt stehen.
Als sie unmittelbar hinter sich Lärm hörte, drehte Yuxia sich um und sah, dass die Hälfte eines Fenstersturzes aus Gussbeton wie ein Messer, das man durch ein Stück Aluminiumfolie gestoßen hatte, durch das Blechdach des Lieferwagens gefallen und auf den zerquetschten Überresten des mittleren Sitzes liegen geblieben war. In das Loch im Fahrzeugdach regnete es Staub und Sand und Kies.
Wieder und wieder ließ sie den Motor aufheulen und hörte die Hinterräder auf der Straße durchdrehen. Irgendetwas war unter den Vorderrädern festgekeilt.
Marlons Tendenz, sich von Dingen faszinieren und die Faszination dann den normalen Selbsterhaltungstrieb außer Kraft setzen zu lassen, hatte ihn in Schwierigkeiten gebracht, seit er alt genug war, zu einer Steckdose zu krabbeln und etwas hineinzustecken. Nachdem er gesehen hatte, wie der dicke weiße Mann den jüngeren im Treppenhaus erschoss und der Schwarze ihm hinunter in den Keller nachschlich, musste Marlon ihnen unbedingt noch eine Etage weiter folgen und sehen, was das alles für ein Ende nahm. Er setzte seinen Weg fort, ging hinaus in die Gasse und ließ sich vor dem Fensterschacht auf die Knie fallen, sodass er hineinspähen und alles sehen konnte, was sich dort abspielte: wie der stämmige weiße Mann versuchte, dem mit Handschellen gefesselten schwarzen Mädchen zu helfen, und für seine Mühe mit der Pistole eins übergezogen bekam; irgendeine Auseinandersetzung zwischen dem weißen Mörder und dem schwarzen Mädchen; das entscheidende Eingreifen des schwarzen Stalkers und dann der Aufbruch der beiden mit Handschellen aneinandergefesselten Schwarzen. Auf dem Weg nach draußen hatte das Mädchen Marlon in die Augen geschaut, und einen Moment lang hatte er schreckliche Angst gehabt, sie würde ihn rufen und den dunkelhäutigen Mann auf seine Anwesenheit aufmerksam machen, und Marlon würde so zum nächsten Opfer werden, aber das war nicht passiert.
Den jungen Weißen hatten sie bewusstlos oder tot auf dem Kellerboden liegen lassen. Marlon war versucht, die Sache auf sich beruhen zu lassen und einfach zu verschwinden.
Doch obwohl die Einzelheiten unglaublich verwirrend waren, hatte er den starken Verdacht, dass er und seine Kumpel soeben nur deshalb dem Tod entronnen waren, weil jemand sie durch das An- und Ausschalten des Stroms in ihrer Wohnung gewarnt hatte. Als naheliegende Kandidaten dafür kamen, da sie sich unten in dem Raum mit dem Hauptverteilerkasten aufgehalten hatten, das schwarze Mädchen und der kräftige weiße Mann in Frage. Jetzt sah es so aus, als müssten sie für das, was sie getan hatten, leiden. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er dem schwarzen Mädchen nicht helfen konnte, denn sie war ja an einen bewaffneten Mörder gefesselt – und nicht nur irgendeinen Mörder, sondern einen, der gerade einen anderen Mörder ermordet hatte – was in dem auf Computerspielen basierenden Wertsystem, das Marlon benutzte, um in der Welt die Punkte zu zählen, einen Elitestatus bedeutete –, aber der weiße Bursche lag jetzt ganz
Weitere Kostenlose Bücher