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darauftrat. Jedenfalls erreichte sie alle fünf Geräte und betätigte deren Notausschalter. Dabei bemühte sie sich bewusst, sich nicht von dem ablenken zu lassen, was sich auf der anderen Straßenseite abspielte. Abdallah Jones’ Wohnung war in absurdem Tempo, so als wäre sie aus Blitzpapier, in Flammen aufgegangen. Er war entweder tot oder aus der Deckung in die Straßen von Xiamen gespült worden, wo er unmöglich mehr als ein paar Minuten würde überdauern können.
Als der durch die Schießerei verursachte erste Schock sich allmählich aus ihrem Kopf zu verziehen begann, wurde ihr klar, dass die Situation gar nicht so schlimm war, wie sie zuerst gedacht hatte. Natürlich hatte sie immer noch keine Ahnung, wer in Jones’ Wohnung eingedrungen war und warum. Es gab sicher viele, die ihn gerne tot gesehen hätten. Jetzt darüber zu spekulieren, würde sie nicht weiterbringen. Niemand schlug die Türen von Xinyou Quality Control Ltd. ein. Das einzig Richtige, was sie jetzt tun konnte, war also, die ganzen Abhörgerätschaften zusammenzusuchen und zu zerstören. Das glaubte sie ziemlich problemlos erledigen zu können, indem sie alles in einen Müllsack steckte, den sie dann auf dem Heimweg in der Meerenge zwischen Xiamen und Gulangyu versenken würde. Etwas sonderbar würde es schon aussehen, aber da es durchaus nicht ungewöhnlich war, dass Chinesen Müll ins Meer warfen, würde es wahrscheinlich unbemerkt bleiben. Selbst wenn jemand beschließen sollte, ein großes Theater darum zu machen, war ein solches Verbrechen es wohl kaum wert, dass eigens Taucher kämen, um den schlammigen Grund der Meerenge abzusuchen.
Also riss sie mit einem Ruck den Müllbeutel aus ihrem Papierkorb und machte einen Rundgang durchs Büro, bei dem sie alle elektronischen Geräte ausstöpselte und eins nach dem anderen in den Sack fallen ließ. Schweren Herzens warf sie auch ihren Laptop hinein.
Sie knotete den Sack zu. Er war so schwer geworden, dass sie ihn wie der Weihnachtsmann würde über der Schulter tragen müssen. Die leeren Fenster im Rücken, ging sie quer durchs Büro auf ihren Schreibtisch zu, um ihre Handtasche zu holen. Sie würde ruhig die Treppe hinunter und zu Fuß zum Hafen gehen, wo sie ein Schweinegeld für die Fahrt mit einem Wassertaxi hinüber nach Gulangyu ausgeben würde. Auf halbem Weg würde sie den Sack über Bord fallen lassen. In ihrer Wohnung würde sie dann ihre Tasche packen, einen verschlüsselten Anruf tätigen, in dem sie ankündigte, dass sie auf dem Sprung sei, aus der Stadt zu verschwinden, dann zum Flughafen fahren und den nächstbesten Flieger nehmen, der sie außer Landes bringen könnte.
Als sie diesen Plan im Kopf durchspielte, nahm sie plötzlich vollkommen fassungslos zur Kenntnis, dass sie an die Wand des Büros gepresst wurde und keine Luft mehr bekam. Die Fenster sah sie auf der Seite liegend – nein, auf dem Kopf stehend. Dann sah sie überhaupt nichts mehr, denn eine Wolke aus wirbelndem grauem Staub drückte sich durch die zerfetzten Planen herein, dehnte sich aus und füllte schließlich jeden Winkel des Raums, einschließlich ihres offenen Mundes.
Sie versuchte auszuspucken, doch ihr Mund war trocken. Der Staub war ihr bis in die Kehle gedrungen, und das löste in ihrer Speiseröhre Krämpfe aus, die erst aufhörten, als sie sich übergab. Ein Impuls, von der Lache aus Erbrochenem wegzukommen, zwang sie auf Hände und Knie. Diese kleine Bewegung jagte ihr elektrische Nadelstiche in alle Gliedmaßen und machte sie so benommen, dass ihr wieder schlecht wurde.
Sie musste hier raus.
Die Knie immer noch unter sich gebeugt, schwankte sie gegen die Wand des Büros.
Ihr Blick fiel auf den Müllsack, der neben ihr gelandet war. Sie packte den Knoten, mit dem sie ihn zugeschnürt hatte. Dann stellte sie die Füße unter sich und rappelte sich mit dem Rücken an der Wand hoch. Mit ihrer freien Hand tastete sie seitwärts, bis sie die Tür gefunden hatte. Oder besser, die Türöffnung, denn die Tür war aufgesprengt worden.
Wo war ihre Handtasche? Sie warf einen Blick zurück in das Büro, doch das war nur ein grauer Nebel mit undeutlichen Formen darin. Alles lag und stand irgendwo anders als vorher. Große Teile der Decke waren eingestürzt.
Die ihrer Planen beraubten leeren Fenster bildeten quer über die gegenüberliegende Wand vier große unscharfe graue Rechtecke.
In einem von ihnen tauchte ein Schatten auf: die Silhouette eines Mannes. Er sprang mit einem Satz über die
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