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Ende der Unterhaltung in Olivias Wohnung war Sokolow wieder in dem sicheren Haus im dreiundvierzigsten Stock des Wolkenkratzers.
Alles war weg, bis auf den Müll, den sie liegen gelassen, und den Computer, den sie hier gekauft hatten. Nachdem Peters Rat, ihn mitzunehmen, bei Iwanow auf taube Ohren gestoßen war, hatte Peter damit begonnen, das Gehäuse zu öffnen, um die Festplatte herauszunehmen und einzustecken. Das war Iwanow jedoch zu langsam gegangen, sodass er ihn auf halber Strecke unterbrochen hatte.
Daher sah sich Sokolow jetzt einem halb auseinandergenommenen Gerät gegenüber, dessen Festplatte – ein Stahlklotz von der Größe eines Sandwichs – ausgesteckt, aber nicht aus dem Gehäuse herausgenommen worden war. Sie wieder anzustöpseln war lächerlich einfach, da die Stecker nur in eine Richtung in die Anschlüsse passten. Als er den Computer hochfuhr, öffnete sich alles ganz normal. Das Internet schien zu funktionieren, aber er fing gar nicht an zu surfen, denn fast alles, was er sich gerne angesehen hätte, wäre ein Hinweis an das Büro für Öffentliche Sicherheit gewesen. Olivia hatte ihm die URL einer beliebten chinesischen Chat-Seite aufgeschrieben, auf der sich gelegentlich auch Unterhaltungen in englischer Sprache fanden. Er tippte sie in die Adresszeile des Browsers ein, öffnete die Seite und ging in den Raum, den sie ihm genannt hatte. Hier schien es sehr still zu sein, und er fand keinen der verschlüsselten Sätze, nach denen er suchen sollte. Das war allerdings kaum verwunderlich, da sie sicher noch gar nicht in dem wa ngba war.
Was er wirklich tun musste, war schlafen, um am nächsten Tag topfit zu sein. Er hasste es, die Stunden der Dunkelheit dafür zu verschwenden, in denen er sich leichter draußen bewegen konnte, ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Es gab jedoch keinen Grund, unterwegs zu sein, nichts, was getan werden musste. Zweimal schlenderte er die ganze Büroflucht auf und ab und betrachtete die weit unterhalb von ihm sich ausdehnende Galaxis aus bunten Lichtern, die Neonschriftzeichen, die er nicht lesen konnte.
Trotz seiner ungeheuren Müdigkeit wusste Sokolow schon, dass er nicht gut schlafen würde.
Sein Kommandotrupp war heute ausgelöscht worden. Alle ihm unterstehenden Männer waren tot. Sie hatten Ehefrauen, Mütter, Freundinnen in Russland, die darauf warteten, von ihnen zu hören, und die noch nicht wussten, dass sie für immer gegangen waren. Bis jetzt hatte er das verdrängt, denn darüber nachzudenken war sinnlos. Er hatte schon lange Männer unter sich: seit man ihn zum Unteroffizier befördert und mit der Verantwortung für eine Gruppe betraut hatte. Entsprechend der Beschaffenheit der Orte, in die er geschickt worden war, hatte es häufige und schwere Verluste gegeben. Dann hatte er Briefe an diese trauernden Mütter und Witwen geschrieben und sich dabei der alten abgedroschenen Wendung bedient, diese Männer seien im Kampf für das Vaterland gefallen: eine Behauptung, die während der Invasion von Afghanistan schwer, im Fall des Tschetschenienkriegs unwesentlich leichter aufzustellen war.
Hätte er Papier und Stift und die Adressen der Hinterbliebenen dagehabt, was für trostreiche Lügen würde er ihnen schreiben? Diese Männer waren Söldner im Dienst einer zwielichtigen Organisation gewesen, deren einziges Handlungsmotiv der Profit war.
Wie er.
Selbst wenn es möglich wäre, gegenüber einem Kartell des organisierten Verbrechens ein Gefühl persönlicher Loyalität aufzubauen – was im Grunde gar nicht so schwierig sein dürfte, da Männer andauernd für solche Organisationen kämpften und starben –, Fakt war, dass das keine Operation in gutem Glauben, sondern ein kolossaler Fehler gewesen war, begangen von einem Mann, der seine Organisation hintergangen hatte und dann halb verrückt geworden war.
Selbst das konnte man noch erklären. Dazu wäre zwar eine gewisse Erfindungsgabe vonnöten, aber bis zu einem bestimmten Punkt ergab sich eine kohärente Situation. Was er niemals in einen Brief würde fassen können, war die Tatsache, dass sie zufällig in eine von einer Dschihadistenzelle betriebene Bombenfabrik geraten waren.
Kein Wunder, dass die chinesischen Behörden von einer Gasexplosion sprachen. Das zeugte nicht etwa von dem Versuch, irgendetwas zu vertuschen, sondern von dem Wunsch nach einer einfacheren Erklärung.
Wenn er den Familien überhaupt irgendetwas erzählte, dann nur, dass sie durch eine Gasexplosion, durch einen
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