Erschiess die Apfelsine
Aber ich wusste nicht, was ich damit tun sollte.
»Hungert!«, schrie ich. »Bombardiert den Dreck!«
Alle wandten sich mir zu. Es war ein Gefühl, wie tausend Fingerspitzen auf meiner Haut, als alle Blicke auf mir landeten, ein schwerer, trommelnder Regen. Die Luft surrte wie von Grillen, ein kräftiger elektrischer Strom, es blies mir heulend durch die Gedärme. Ich stand da oben auf dem Treppenabsatz, ich hatte einen Berg erklommen und stand unter dem Himmel, umgeben von blauen Blitzen.
»Bombardiert den Dreck!«
Ich erkannte meine eigene Stimme kaum wieder. Sie hallte über die Geröllkuppe, weiter hinab über die Gletscher, das Lawinenbett, die Bruchkanten, sie sang zwischen den schroffen Wänden und schlug gegen die Felswände. Ich war ein anderer geworden. Sie konnten mich nicht mehr kriegen.
»Jetzt hältst du aber die Schnauze«, war eine Stimme zu hören.
Direkt vor mir stand die Schweinefresse. Ich konnte ihm direkt in seine aufgeblähten Nasenflügel gucken, weit hinein ins Gehirn.
»Die Feder ist meine Pistole!«, schrie ich.
Alle starrten mich an. Genau wie damals, als ich mit einem Strauß verschwitzter Rosen dastand, alles kam wieder hoch. Im Hintergrund konnte ich Lavendel erahnen, Leonardo, Ludvig, die Künstler, die Arschgeigen, ein Menschenmeer. Ich spürte, wie es wie Nadeln in mir stach, der Filmstreifen war kurz vorm Reißen. Die Schweinefresse versuchte es mit einem Lachen. Die Arschgeigen fielen ein, zeigten ihm ihre Unterstützung.
»Ich trete dir den Schädel ein«, flüsterte die Schweinefresse, so dass nur ich es hörte.
»Glaubst du, ich habe Angst?«, fragte ich.
»Mmh.«
»Du glaubst es, ja? Du glaubst, ich habe Angst vor dir, ja?«
»Haha …«
»Vor den Schmerzen? Du, die Schmerzen sind mir so was von kackegal.«
»Nach der Schule …«, zischte es zwischen den Zähnen.
»Nein, jetzt. Jetzt!«
Er guckte mich verblüfft an, suchte nach einer anderen Taktik. Ich sah, wie sein Mund das Schwuchtelwort formte, sein Lieblingswort, Schwuchtel, Schwuchtel, Schwuschwuschwuchtel, aber ich war bereits weit weg, ich stellte mich auf den Treppenabsatz, die raue Felswand unter mir, und ich schloss die Augen.
Es ging nur um Mut.
Der Mutige wird mutig.
Dann ließ ich mich fallen.
Jemand schrie. Ein Vogel.
Luft, nur Luft.
Man denkt so viel, wenn man stirbt.
Man wird so frei.
Dann traf die Schulter auf. Der Nacken, Oberarm, Hüfte, Knie, immer rundherum in einem Wirbelwind.
Dreißig Autocrashs.
Aber ich tat nichts, hielt die Augen geschlossen. Ließ es geschehen. Ließ meinen Körper untergehen. Bis alles still wurde.
KAPIFFEL 15
Wenn man die Leute fragt, warum sie leben wollen, warum sie wirklich leben wollen, dann fangen sie an, Listen aufzustellen. Man will sich mit seinen Freunden treffen. Mit seiner Familie Zusammensein. Man tut bestimmte Sachen gern. Spielt Eishockey, chattet, hört Musik. Man sehnt sich nach neuen Eindrücken. Will an exotische Orte reisen, fremde Lippen küssen, Kokosmilch in einer Bambushütte trinken und sehen, wie die Sonne im Indischen Ozean untergeht. Das ist es, was man als Sinn des Lebens ansieht.
Aber wenn wir nun nichts erleben? Sterben wir dann? Sind wir jede Nacht tot, wenn wir schlafen, bevor die Träume wirklich in Gang kommen? Natürlich lebt der Körper, aber was geschieht mit der Seele? Mehrere Stunden lang ist sie jede Nacht fort. Wo ist sie dann? Gibt es mich noch, wenn ich schlafe? Sterbe ich jede Nacht, um am nächsten Morgen von den Toten aufzuerstehen? Vielleicht haben wir nicht nur ein Leben, sondern viele, 365 Leben jedes Jahr mit jeweils einem Tod dazwischen. Und der letzte Tod, der auf uns wartet, ist nur viel länger als die anderen.
Oder wenn man in Ohnmacht fällt? Wenn man beispielsweise mit dem Kopf auf eine Steintreppe aufschlägt und eine Weile weg ist? Ein paar Sekunden oder Minuten, das ist schwer zu sagen, man hat ja keine Ahnung, wenn man wieder aufwacht. Nur, dass es ausgeschaltet war. Eine Leere. Ein riesiges Nichts.
Nach einer Ohnmacht wird einiges anders. Man weiß nicht, was, aber man spürt es. Vielleicht ist man nicht in derselben Welt wieder aufgewacht? Jemand hat sie ausgewechselt, während man weg war, die alte beiseite geschafft und eine neue gebaut. Vielleicht hat man den Geschmack von Zwiebeln im Mund. Vielleicht tut es auf neue Art weh, fährt der Schmerz direkt durch einen hindurch, als wäre man auf eine Nadel getreten. Vielleicht ist man wie ein Motor auseinandergenommen und
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