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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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auf, öffnete die Augen. Die Flurlampen ertränkten meine inneren Bilder, aber das Gefühl blieb. Blut. Ich hatte Blut gesehen. Und der Kopf tat weh wie nach einem Tritt. Doch dort draußen in der Welt war nichts bemerkt worden, alle wahrten ihre Maske, die Münder murmelten wie matschige Maschinen.
     
    Den ganzen Nachmittag fühlte ich mich matt und merkwürdig. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Trotzdem weigerte ich mich, etwas zu essen, versuchte beharrlich an etwas anderes als Essen zu denken. Während der großen Pause entdeckte ich Lavendel unter den Kunstschülern, sie veranstalteten einen Hippieprotest gegen die Wachleute. Die Jugendlichen waren im Stil der Siebzigerjahre verkleidet, mit Perücken und psychedelischen Fetzen, die sie in irgendeiner Kleiderkammer gefunden hatten, sie spielten einen Song von John Lennon auf der Gitarre und überreichten den peinlich berührten Muskelbergen Plastikblumen. Der Lokalreporter war wieder da und machte Fotos. Leonardo Bjälke veranstaltete einen Solotanz, während andere Aquarius sangen, er sprang auf Bänke und machte Spagatsprünge mit der Haarpracht über dem ganzen Gesicht. Ich fand das reichlich pathetisch, aber er bekam jede Menge Applaus, sogar von den Wachleuten. Es war schwer, es zuzugeben, aber ich konnte verstehen, warum Lavendel ihn gewählt hatte. Er war eine knackige Antilope. Und ich war eine graue Waldkrähe. Dass er aber dabei einen Liter Quark im Kopf hatte im Vergleich zu meinem gewaltigen Flussdelta glänzender biologischer Vielfalt, das würde sie leider niemals entdecken.
    Die Künstlerbande lief die Steintreppen zur Schulaula hinauf, langsam sammelte sich alles zur großen Versammlung der Schulleitung. Ich folgte ihnen. Vor den Aulatüren hing bereits eine große Menschenmenge und wartete. Die Kunstschüler drängten sich dazwischen und versuchten einen Protestsong anzustimmen, wurden aber von einer Bande von Naturarschgeigen niedergebuht. Lange, grölende Jünglinge in teuren Jacken.
    »Wir dürfen singen, soviel wir wollen«, protestierte Leonardo.
    »Schwuchtel!«, fingen die Arschgeigen an zu rufen. »Schwuchtel, Schwuchtel, Schwuchtel, Schwuchtel …«
    Leonardo versuchte zu protestieren, doch ich sah, wie er von den Arschgeigen umringt wurde. Die Schweinefresse und Ludvig waren natürlich auch dabei. Sie beugten sich vor und flüsterten Leonardo etwas zu. Ich konnte nichts hören, aber er erbleichte und schaute sich hilfesuchend um. Seine Kunstkumpel zögerten. Aber sie sahen ihre Niederlage ein, sie waren den Arschgeigen zahlenmäßig weit unterlegen, und die meisten von ihnen waren Mädchen. Der Gesang und die Instrumente verstummten. Die Schweinefresse grinste und fing ironisch an zu klatschen. Die anderen fielen ein mit dreckigem Lachen und Kommentaren.
    »Verschwindet, bevor wir euch anpissen!« »Bombardiert die Affen! Raus mit den Kommunisten!« »Die waren es, die haben unsere Schule angeschmiert!« Doch dann war eine Stimme zu hören, die das Gebrüll übertönte.
    »Ihr feigen Schweine!«
    Das war Lavendel. Laut rufend trat sie aus der Kunstschülergruppe und stellte sich vor Leonardo, als wollte sie ihn mit ihrem Körper schützen. Die Arschgeigen wichen zurück. Ein kleines Mädchen mit angemalten Augen und großen Hippieohrringen. Ludvig trat vor. Stellte sich dicht vor sie. Dann wippte er mit den Hüften, dass sie zurückweichen musste.
    »Hoppla«, grinste er.
    Die Arschgeigen johlten schadenfroh. Keiner der Zuschauer im Kreis half ihr, stattdessen rutschten alle hin und her, um besser sehen zu können. Lavendel fand das Gleichgewicht wieder, ihr Blick glänzte vor Angst und Wut. Sie wollte es ihm gerade heimzahlen, alle konnten es sehen, sie war kurz davor, ihm etwas Stinkwütendes an den Kopf zu schmeißen. Doch in dem Moment beugte die Schweinefresse sich vor und streckte die Zunge heraus. Wie ein Hund leckte er ihr mit einer breiten, feuchten Bewegung über den Mund. Die Arschgeigen jubelten. Lavendel erstarrte, mit vor Ekel verzerrtem Gesicht. Sie war kurz vor den Tränen. Und alle guckten nur zu, neugierig, aufgestachelt. Froh, etwas zu erleben:
    »Ihr hättet das Mädchen sehen sollen! Wie sie mit offenem Mund dastand. Verdammt, das hat ihr gefallen. Ein bisschen fette Naturkundezunge in der Hurenfresse …«
    Mein Kopf fühlte sich merkwürdig an. Wie ein Fußball mit Kohlensäure. Der Magen schrie vor Leere. Ich stand ganz oben auf der steilen Steintreppe und zog in Gedanken wie ein Gladiator mein Schwert.

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