Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
Vom Netzwerk:
Waffen. Er opferte nichts. Er warf keine Rose hinein, um der Liebe zu gedenken, die es nicht mehr gab; er schleuderte keinen Dolch für die Götter des Hasses hinein. Er stand nur da und starrte auf den sich bewegenden, im Sonnenlicht glitzernden Schauplatz, und bevor er ging, spuckte er auf ihren Fluch.
    »Der Sturm wird schlimmer.« Diana wandte sich vom Fenster des Arbeitszimmers ab und ließ den Vorhang fallen. Sie blickte hinunter auf das Bett, auf dem ihr Mann lag. Sein Gesicht war grau vor Schmerz. Seine Hände krallten sich unruhig in die Decke, die sie über ihn gezogen hatte.
    »Keine Sorge. Joe schafft es bestimmt.« Seine Stimme wurde merklich schwächer. »Er ist ein sturer Kerl. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich von so einem lächerlichen Schneesturm unterkriegen läßt. Und den Kindern passiert schon nichts.«
    Diana zwang sich zu einem Lächeln. »Ich weiß.« Sie wandte sich wieder zum Fenster, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte, zog den Vorhang ein wenig zurück und spähte hinaus in das Schneegestöber. Irgendwo da draußen war er. Marcus. Sie konnte ihn fühlen. Böse. Wartend. Wartend worauf? Sie zu benutzen? Sich ihrer Energie zu bedienen? Und keine Tür konnte ihn fernhalten. Sie wandte sich erneut Roger zu. Seine Augen waren geschlossen, und sie beobachtete ihn einen Moment lang. Man konnte fast sehen, wie ihn die Kräfte verließen. Ihr böser Besucher würde in ihm keine Nahrung finden. Sie zitterte. Er starb. Sie konnte sich nicht länger etwas vormachen. Er starb vor ihren Augen. Sie wollte sich in seine Arme werfen und ihn festhalten, die eigene Stärke in ihn hineinwünschen, aber das war unmöglich. Sie konnte nichts tun, als warten und zusehen. Sie schüttelte traurig den Kopf, als sie auf Zehenspitzen zur Tür schlich, das Arbeitszimmer verließ und hinaus in die kalte Diele ging. Sie spürte den Zug, der unter der Haustür hereinkam. Er war eiskalt; ein wenig Schnee war unter der Isolierung hereingeweht und lag in einem weißen Schleier über den Steinplatten. Sie schloß leise die Tür hinter sich und ging hinüber ins Wohnzimmer.
    Cissy und Sue saßen auf dem Sofa beim Feuer, Seite an Seite. Ihr Blick ging automatisch zum Sessel gleich neben der Kaminecke, wo bei einem Wetter wie diesem normalerweise die beiden Kater lagen, Haufen aus schwarzem und weißem Fell. Es gab keine Spur von ihnen.
    Greg stand in der Küche, auf die Lehne eines der Eichenstühle gestützt. Er schien ins Nichts zu blicken. »Wie geht es ihm?« fragte er, als sie gedankenverloren zu ihm hinüberschlenderte.
    Sie zuckte mit den Achseln. »Nicht gut.«
    Er sah sie eindringlich an. »Joe kommt schon durch, Ma.«
    Sie versuchte zu lächeln. »Ja, sicher. Aber ich fürchte, daß es für deinen Vater zu spät sein wird, Greg. Wir müssen darauf gefaßt sein.«
    Er legte den Arm um sie, zog sie eng an sich. »Irgendwann mußte es ja passieren. Wir wußten, daß es nicht mehr lange dauert«, sagte er behutsam.
    Sie nickte stumm.
    »Er hat immer gesagt, daß er hier von uns gehen will und nicht im Krankenhaus.«
    »Ich weiß.« Es war ein Flüstern.
    »Soll ich mich eine Weile zu ihm setzen?« Er küßte sie auf den Kopf. »Und du schläfst ein bißchen; du schaust aus, als würdest du gleich umfallen. Ich rufe dich, wenn er dich braucht.«
    Sie nickte und ging zur Tür an der Treppe. »Sowie er mich braucht, Greg«, wiederholte sie leise.
    »Versprochen.«
    Die Treppe war kalt, und das obere Stockwerk des Hauses dunkel, als sie müde zu dem Schlafzimmer hochstieg, das sie so viele Jahre lang mit Roger geteilt hatte. Einen Moment lang blieb sie in der Tür stehen und sah sich um. Sie wußte nur zu gut, daß er nie wieder durch diese Tür gehen würde. In der Ecke auf dem Boden lag ein Stapel mit Geschenken, die teilweise unter einer Decke verborgen waren œ eine wehe Erinnerung daran, daß es bis Weihnachten nicht einmal mehr zwei Wochen waren.
    Sie ging hinüber zu dem niedrigen Fenster und starrte hinaus. Es wurde langsam hell, aber der Schnee fiel jetzt sehr dicht, wirbelte durch die Luft und versperrte den Blick auf den Horizont. Von diesem Zimmer aus, das nach Osten lag, konnte man normalerweise über die Dünen bis zum Meer schauen, aber heute war alles grau und weiß œ eine wirbelnde, körperlose Masse. Geistesabwesend drehte sie sich um œ und blieb abrupt stehen.
    Die Frau beim Bett war so deutlich zu sehen, daß sie jedes Detail ihrer Kleidung, ihres Haars, ihrer Haut, ihrer Augen erkennen

Weitere Kostenlose Bücher