Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
gegraben.«
»Um drei Uhr morgens?« Alison warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Wenn es ein Einbrecher war, melden Sie das besser der Polizei. Wir hatten hier noch nie Einbrecher.« Der Klang ihrer Stimme sagte, daß Kate ihrer Meinung nach den Ärger mitgebracht hatte. »Rufen Sie lieber Dad an.«
»Ja, das ist vielleicht besser.« Kate runzelte die Stirn. »Ich schaue bei ihm rein und rede mit ihm, wenn ich das Auto hole. Ich muß heute morgen ohnehin nach Colchester.«
Sie war nicht sicher, wann sie beschlossen hatte, noch einmal zum Museum zu gehen. Die Idee war ihr so nachdrücklich in den Sinn gekommen, als hätte sie es schon seit langem geplant.
»Er ist gerade nicht da. Sie sind den Tag über in Ipswich.«
»Oh.« Kate fühlte sich im Stich gelassen. Seit sie heute morgen aufgewacht war, hatte sie die ganze Zeit das Bild des freundlichen, beruhigenden Gesichts von Roger Lindsey vor Augen gehabt. Er würde wissen, was zu tun war. »Kommst du zurecht, wenn du hier ganz allein bist?« Sie wandte sich Alison zu, die all ihre Werkzeuge und den Recorder auf den Armen balancierte.
»Klar. Ich bin immer allein hier raufgekommen.« Die Stimme war munter, fest und widerlegte die kurz aufflackernde Unsicherheit in Alisons Augen.
Das Museum war erstaunlich leer, als sich Kate durch die Ausstellungsstücke aus dem Bronze- und Eisenzeitalter zur Treppe schlängelte. Drüben links konnte sie das Video hören, das vor sich hinspielte. Jemand hatte den Einschaltknopf gedrückt und war dann gegangen, so daß der Ton nun als körperloses Echo in der verlassenen Galerie widerhallte.
Marcus Severus Secundus starrte aus toten, steinernen Augen auf die Glasvitrinen um ihn herum. Die Plastik entsprach dem üblichen Stereotyp: gutaussehend, klassisch, das Haar gelockt. Hatte die Statue irgendeine Ähnlichkeit mit ihm, oder hatte sie ein Bewunderer oder Nachkomme œ sein Sohn vielleicht œ beim Bildhauer fertig gekauft, um sie zum Gedenken neben seinem Grab aufzustellen? Sie schaute ihn lange eindringlich an, versuchte, hinter diese leeren Augen zu dringen. Dann œ sie wußte, daß sie damit gegen die Museumsordnung verstieß œ hob sie vorsichtig die Hand und ließ die Finger über sein Gesicht gleiten, berührte die verstümmelte Nase, zeichnete die Linie seiner Backenknochen nach, seines Kiefers, seiner Schulter.
Die Vitrine, in der die Fundstücke aus seinem Grab aufbewahrt wurden, stand ganz in der Nähe. Sie ging hinüber und starrte mit einem Gefühl der Bestürzung auf die Exponate. Sie hatte nicht damit gerechnet, Knochen zu sehen.
»In einem für diese Epoche sehr seltenen Erdgrab, freigelegt am Fundort B4 beim dritten Grabhügel von Stanway, wurden die Überreste von Marcus Severus Secundus und seiner Gattin Augusta Honorata gefunden. Marcus Severus, ein Überlebender des Angriffs auf Colchester durch Boadicea, 60 n. Chr. war einer der führenden Männer beim Wiederaufbau der Stadt. Im Grab fand man Symbole seines Amtes, Schmuck und kleine Grabbeigaben.«
Kate starrte durch die Scheibe. Die Knochen lagen auf Haufen, ausgestellt in einer Gipsnachbildung des Grabes. Keines der beiden Skelette war vollständig. Waren sie zusammen gestorben, Marcus Severus und seine Frau? Sie ging in die Hocke, um den ausgestellten Schmuck besser sehen zu können. Zwei Ringe aus Gold, eine Halskette aus Türkis und Bernstein, zwei Broschen, eine aus Silber, eine emailliert, und mehrere Haarnadeln. Das mußte ihr gehört haben. Und ihm gehörte der schwere Siegelring, der unter einem Vergrößerungsglas lag, durch das sie die Gravur sehen konnte. Sie zeigte ein sich aufbäumendes Pferd. Und ihm gehörte vermutlich auch die große silberne Brosche mit dem komplizierten Muster und der langen, geprägten Nadel. Sie konsultierte die Informationstafeln am anderen Ende der Ausstellungsstücke und las: »Exponat 4: Eine gewundene Brosche aus heimischem Silber, keltisch. Stammt wahrscheinlich aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. Ein ungewöhnlicher Fund in einem römischen Grab.« Was aber hatte Marcus Severus aus der römischen Legion in den Besitz einer keltischen Mantelbrosche gelangen lassen? Hatte er sie gekauft? Oder erbeutet? Oder hatte er sie geschenkt bekommen?
Schließlich verließ sie das Museum und fuhr zur Ortsmitte. Nachdem sie sich mit frischen Lebensmitteln, ein paar Filmen für ihren Photoapparat sowie einer großen Taschenlampe mit zwei Ersatzbatterien eingedeckt und sich in einem Weinlokal ein Glas Wein, einen Teller
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