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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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tanzte, bevor sie zurückkam, um das kalte weiße Fleisch des Fisches in sich hineinzuschlingen.
    Sie fand vierzehn Münzen, die sie sorgfältig in weiche Stoffteile wickelte, die sie voller Optimismus für eben diesen Zweck mitgebracht hatte. Dann verstaute sie diese in ihrem Proviantsack und wandte sich wieder der Grabung zu.
    Sie haßte die Stille. Eine Stille, die das leise, ständige Rauschen von Wind und Wellen nicht durchzulassen schien. Sie erschien ihr bedrohlich. Wie ein Wesen drang sie in ihren Kopf ein, in ihr Gehirn. Sie war sich ziemlich sicher, daß sie ihr diese Migräneanfälle zu verdanken hatte, derentwegen sie nicht zum Unterricht gehen konnte. Doch diesmal hatte sie sich etwas einfallen lassen, um die Kopfschmerzen in Schach zu halten. Eine halbe Stunde später durchforschte sie zu den ohrenbetäubenden Klängen der Sex Pistols die Sandhaufen mit Heugabel und Kelle und sonderte systematisch alles aus, was von Interesse war, als sie innehielt und hinunter auf den Flecken aus dunklem Sand vor ihr schaute.
    Der Dolch war noch halb vergraben, der Griff und der querstehende Handschutz stark korrodiert, aber nicht so stark, als daß er nicht sofort zu erkennen gewesen wäre. Einen Moment lang starrte Alison reglos darauf hinunter, dann ließ sie sich auf die Knie fallen und begann, den umliegenden Sand behutsam wegzuscharren. Der Dolch war etwa fünfunddreißig Zentimeter lang, die Klinge an der weitesten Stelle fünf Zentimeter breit. Sie blieb lange sitzen und hielt ihn in der Hand, musterte ihn mit ehrfürchtiger Scheu, während die Stimme von Johnny Rotten über den Strand schmetterte, zerrissen vom Wind und über das Wasser verstreut. Als sie endlich aufstand, hielt sie ihre Trophäe unbeholfen hoch und langte wieder nach dem Proviantsack.
    Der eiskalte Windstoß traf sie völlig unerwartet. Er riß ihr den Proviantsack mit dem wertvollen Inhalt aus den Händen und fegte ihn den Strand hinunter, als sie, geblendet vom fliegenden Sand, seiner verzweifelt wieder habhaft zu werden versuchte. Ihr Besen fiel seitlich nach vorn und wurde davongeblasen, um schließlich verkeilt in den Kieseln am Ende der Düne zu landen. Ihr Kassettenrecorder versank langsam in der lockeren Erde, wo er weiter seine Musik in das Brüllen des Windes plärrte, bis schwere Erde auf die Tasten fiel und er plötzlich still war.
    Kaum daß die Bö gekommen war, war sie auch schon wieder vorüber. Alison schob sich die Haare aus dem Gesicht und kletterte aus der Mulde. Ihr Proviantsack lag leuchtend zwischen einem Wirrwarr aus Seetang, knapp zwanzig Meter weiter, am Rande des Wassers. Sie rannte hin und riß ihn an die Brust, schwer atmend. Dann drehte sie sich um.
    Über der Düne tanzte der Sand immer noch wie verrückt in einer wirbelnden Spirale, die sich etwa einen Meter in die Luft erhob. Sie sah einige Sekunden lang zu, wie er aus der Mulde wirbelte, fort von ihr, den Strand hinunter auf den Arm der Bucht zu. Dann war auch dieser Spuk verschwunden.
    Sie schluckte nervös. Dieser Ort machte sie ganz schön fertig. Sie zwang sich, zur Mulde zurückzugehen, und starrte auf die Stelle hinunter, wo sie erst vor fünf Minuten so friedlich gearbeitet hatte. All ihre Mühe war umsonst gewesen. Der Sand war wieder in sich zusammengestürzt, ihr Besen und ihr Spaten darunter begraben, ihre Kelle verschwunden, ihr Kassettenrecorder zur Hälfte in der Erde versackt und verstummt, und ihr Picknick œ zwei Schokoladenriegel und eine Büchse Cola œ war in eine Pfütze aus Meerwasser gefallen.
    »Scheiße!«
    Sie sprang hinunter in das Loch, barg ihre Habe und wuchtete alles hoch zum Rand. Sie schaltete den Recorder an. Es war tröstlich zu hören, wie er offensichtlich unversehrt weiterschmetterte. The Cure trugen eine Menge zur Wiederherstellung ihres seelischen Gleichgewichts bei. Sie riß die Verpackung eines Schokoriegels auf, die zum Glück unbeschädigt und auch nicht aufgeweicht war, und begann zu essen.
    Einen Meter zu ihrer Linken, unbemerkt und fast unsichtbar im Lehm, aus dem sie hervorstand, begann eine Menschenhand, zerkratzt und zusammengeschrumpft, in der feuchtnassen Luft zu zerfallen.
    Hinter ihr befand sich ein schwacher Schatten. Als Alison endlich aufblickte und ihn ansah, hatte er die Größe und Gestalt eines Mannes.

XVI
    Oh, sie war schön, die Mutter seines Sohnes. Er beobachtete sie, wie sie, den Ellbogen auf den niedrigen Tisch gestützt, lustlos in den Feigen herumstocherte, die vor ihr auf dem Teller lagen.

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