Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
jung und stark und unbesiegbar. Und er war verliebt. In seinem Körper pulsierte das rote Blut der Leidenschaft. Seine Haut stand jedesmal in Flammen, wenn sie ihn berührte. Seine Augen hungerten nach ihrem Körper, auch wenn er sie fortgehen sah. Man wußte es, einer der älteren Druiden würde den verbrannten Brocken nehmen; einer der alten Männer; einer der Väter; einer, der bereit war, aus freiem Willen den Göttern gegenüberzutreten.
Das Schlafzimmer im New Yorker Hyatt Hotel war drückend heiß. Jon Bevan schreckte plötzlich aus dem Schlaf, sein Körper war schweißgebadet. Mit einem Stöhnen hob er das Handgelenk zum Gesicht und musterte das leuchtende Zifferblatt seiner Uhr mit Augen, die sich anfühlten, als seien sie mit heißem Sand eingerieben worden. Vier Uhr morgens. Er schwang die Füße auf den Teppich, tastete sich durch den Raum zum kleinen Badezimmer und suchte den Lichtschalter. Das helle weiße Licht blendete ihn. Mit einem erneuten Stöhnen ging er hinein, machte den Kaltwasserhahn an und ließ kaltes Wasser in das Becken laufen. Er tauchte die Hände hinein, spritzte das Wasser über Gesicht und Schultern. Es war nicht kalt, eher lauwarm, aber es war besser als nichts.
Was hatte ihn aufgeweckt? Er ging zurück ins Schlafzimmer und machte das Licht neben dem Bett an. Die schweren, doppelten Vorhänge waren geschlossen. Es war seltsam, wie er sich an Kates lächerliches, paranoides Bedürfnis gewöhnt hatte, die Schlafzimmervorhänge über Nacht offen zu lassen; jetzt bekam er Platzangst, wenn sie geschlossen waren. Er hob eine Ecke hoch und spähte hinaus, doch er wußte, es würden keine Sterne zu sehen sein. Sein Schlafzimmer blickte auf ein monströses, ausgehöhltes Treppenhaus, umgeben von anderen Fenstern, das zum Himmel reichte, bis es nicht mehr zu sehen war. Er hatte, als es noch hell war, seinen Kopf so weit wie möglich aus dem Fenster zu strecken versucht, um den Himmel zu sehen œ ohne Erfolg. Er schob das Fenster ein paar Zentimeter nach oben. Kalte Luft drang in das Zimmer, und mit ihr die Gerüche und Geräusche der Stadt. Das Tuten einer Autohupe, in der Ferne das Heulen eines Martinshorns, ein Gemisch nicht unterscheidbarer Musik, ein Schrei von irgendwo aus der dunklen Fensterwand vor ihm und, transportiert von der kalten Luft, schwer, würzig und ekelerregend, der Geruch von tausend Küchen, die Steaks und Pommes, Hamburger und Bohnen und Zwiebeln kochten. Um vier Uhr morgens, verdammt nochmal.
Er zog das Fenster wieder zu und setzte sich mit einem Stöhnen auf das Bett. Die Party gestern abend im Cafe des Artistes hatte bis zehn Uhr gedauert. Dann waren er und Derek zum 44er weitergezogen, wo sie sich mit ein paar anderen Schriftstellern verabredet hatten. Ab da konnte er sich kaum noch an etwas erinnern. Anschließend waren sie zum Peace gegangen, oder anderswo hin, er wußte es nicht mehr. œ Sie hatten getrunken, zunehmend gefühlsselig vor sich hin philosophiert, stupende Prosastücke komponiert, die sie auf Papierservietten gekritzelt und prompt verloren hatten und die bis morgen vergessen waren, aber das war gut so. Er machte eine Grimasse. Schon die Erinnerung daran war ihm peinlich. Und morgen würde es so weitergehen. Ein Vortrag vor einer Gruppe angehender Schriftsteller, eine Autogrammstunde bei Rizzoli, Mittagessen mit… Wem? Er zuckte die Schultern. Egal. Einer von Dereks Günstlingen würde schon auftauchen, ihn herumführen, Treffen arrangieren, sich darum kümmern, daß seine Kleidung richtig saß und sein Haar gekämmt war, und ihn pünktlich präsentieren œ ein Günstling, angespannt, humorlos, einer, der die Kunst beherrschte, einen erschöpften Autor in New York nicht zu verlieren.
Mit einem Ausruf des Widerwillens warf sich Jon zurück auf das Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er würde bestimmt nicht mehr schlafen können. Er tastet nach der Fernbedienung und drückte willkürlich eine Taste. Sekunden später schaltete er das Fernsehgerät wieder ab. So verzweifelt war er denn doch noch nicht.
Kate fehlte ihm. Kate fehlte ihm ganz furchtbar. Und das Schuldgefühl wegen der Art, wie er sie behandelt hatte, war geblieben. Bei dem Gedanken packte ihn die Wut über sich selbst. Er war engstirnig gewesen, eifersüchtig, unsicher, ungerecht. Er listete sich seine Fehler gnadenlos auf. Na, wenigstens hatte er jetzt einen neuen Vertrag mit den Amerikanern so gut wie in der Tasche und würde zumindest einen Teil des Geldes
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