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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Charles hier in der Klasse – und auch später noch? Und immer wieder? Doch dann: »blöde« in welchem Sinn? Oder wird er nur von den anderen so angesehen? Eine der Zentralfragen des gesamten Romans scheint auf, unvermutet; unlesbar bei der ersten Lektüre, unübersehbar bei der zweiten.
    Zunächst, ist es leicht, sich lustig zu machen über Charles, den Narrenkappenträger. Wie der klassische Held überragt er alle an Körperlänge, doch hat man ihn in die falsche Kleidung gesteckt, er versteht den Verhaltenskodex nicht. »Nous«, die Klassenkameraden, lachen. Doch schon auf den ersten Seiten löst dieses starke »nous« gegen ihn, den Neuen, sich auf. Flaubert, der Autor, schiebt kurzerhand eine Charles-Bovary-Kurzbiographie ein: Familie (der Großvater mütterlicherseits war Mützenmacher), Ausbildung, Einlieferung in die Schule in Rouen. Und schon löst das »nous« des Anfanges sich auf mit dem Satz »Keinem von uns wäre es möglich, sich heute noch irgendwie an ihn zu erinnern«.
    Das sitzt. Das eben erst hergestellte, die Erzählsituation begründende »nous« ist mit einem Strich desavouiert – als Zitat einer Erzählsituation entlarvt. Es ist Fiktion, eben dies wird aufgedeckt. Von nun an wird munter ohne »nous« erzählt. Und wir, die Leser, nehmen das nicht nur hin, sondern freuen uns, dass es noch im selben Atemzug weitergeht mit dem unerinnerbaren Charles: »Keinem von uns wäre es möglich, sich heute noch irgendwie an ihn zu erinnern. Er war ein nicht sehr temperamentvoller Junge …«
    Was für eine contradictio in den Sätzen, was für eine Chuzpe, welch Übergang.
    Schon sind wir bei Charles’ Studium, der Ehe seiner Eltern, seinem Examen, und noch bevor Kapitel Zwei beginnt, ist die 45jährige pickelige Madame Dubus, Witwe eines Gerichtsvollziehers, mit Charles verheiratet und somit seine zweite Madame Bovary – denn die erste war und bleibt seine Mutter.
    Hier kann man bestaunen, wie ein Autor mit einer Erzählstimme anfängt, sie nach drei Seiten kaltstellt und ganz ohne Erzählreflexion weiterkommt, weil dem Leser schon nach ein paar Absätzen egal ist, wer ihm was wie erlogen vorsetzt. Der alte Leseköder – Spannung, Schule, lächerlich machen – hat gezogen. Doch bei Flaubert zeigt sich vieles auf einmal, und deswegen möchte ich noch einmal auf die Kappe kommen, die ein Lehrer sogleich als Helm bezeichnet hat, was der Erzähler »geistreich« findet.
    Tatsächlich: die Kappe erzählt von einem spezifischen Kampf. Ihre Eiform verdankt sich Fischbeinstäben. Fischbein hält auch die Korsette der Frauen. Eine eichelförmige Kordel hängt vom Kappeneck. Sexualaufbauschung und auch ein Moment jener Nach-Außen-Stülpung von Intimem, die im Roman folgen, werden ins Bild gesetzt. Im fünften Absatz des Romans überliest man das. Und doch ist es da, wirkt sich aus in der (späteren) Phantasie des Lesers. Die Mütze ist real und wird zugleich Symbol; ihre Sinnschichtung aber geht sogar noch einen Schritt weiter, denn sie verweist nicht nur auf Charles’ Zukunft, sondern ist auch poetologische Metapher – Bild für den Roman selbst. Auch er besteht aus allem und nichts, aus aberwitzigen Fischbeinstülpungs-Konstruktionen, aus Phantasie und Übergängen, ganz wie die Mütze ein »Vieleck aus Pappe«, das sich schreibt. Drei ringförmige Wülste, drei Teile, durch die man sich hindurchlesen muss, drei Madames Bovary, drei Romankapitel aus Samt, Kaninchenfell und verzwickter Stickerei, doch auch voller Scheußlichkeiten wie Betrug, Verirrung, Geldgier, Ruhmsucht, Narretei, bunt gemischt, gekonnt aneinandergenäht.

II. Übergänge
    Die Kappe, dieser scheinbar willkürlich gefügte, doch eine Einheit bildende Schichtkuchen, diese Metapher für den gesamten Roman, ist mit der zitierten Passage noch nicht zu Ende beschrieben. Ich unterschlug den letzten Satz, der kurz und bündig den Absatz beendet: »Elle était neuve; la visière brillait.«
    Das französische »visière« (Schirm) betont bereits im Wort, dass es ums Sehen geht. Besonders jener Teil erscheint glänzend neu, der die Augen des Kappenträgers schützt und ihm ermöglicht zu sehen, ohne direkt selbst gesehen zu werden. Im Blitz eines Satzes wird hier der Ort des Beobachters ausgestellt. Damit zeigt die Kappe, was wir, im Lesen, werden: Betrachter, unversehens in etwas Neues geraten. Sie bereitet uns darauf vor, wie wir es lesen sollen: im Rückgriff auf alte Lektüren, eingetaucht in neue Bilder, bei denen es sich lohnt, jedem

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