Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Übersetzung durch René Schickele und Irene Riesen, die zu unnötigen Ausschmückungen und Veränderungen neigt.
Doch urteilen Sie selbst, lesen Sie mehrfach – verbessern Sie. Wir befinden uns an einer jener Handlungslagunen des flaubertschen Textes, in denen Sprache und Dinge ihren Zauber entfalten müssen; wir sind noch einmal in der Zeit, als der Arzt Bovary so häufig zum Gut Rouaults reitet; offiziell, um nach dem Bein des Bauern zu sehen, tatsächlich aber, um Emma zu begegnen.
»Elle était sur le seuil; elle alla chercher son ombrelle, elle l’ouvrit. L’ombrelle, de soie gorge-de-pigeon, que traversait le soleil, éclairait de reflets mobiles la peau blanche de sa figure. Elle sourirait là-dessous à la chaleur tiède; et on entendait les gouttes d’eau, une à une, tomber sur la moire tendue.«
Wörtlich, das heißt roh und halbdeutsch, sagt dies: »Sie war auf der Schwelle; sie suchte ihr Schirmchen, sie öffnete es.«
Das Französische wechselt vom Imperfekt des »était«, das eine anhaltende Handlungssituation beschreibt, mit »alla chercher« und »ouvrit« ins passé simple, wodurch eine deutlich sicht- und fühlbare Staffelung der Handlung in »Rahmen« und »neues Ereignis« ausgedrückt wird. Der Strichpunkt unterstreicht dies noch.
»Das Schirmchen, aus Seide taubenkehlenfarben, das die Sonne durchdrang, erleuchtete/beschien mit beweglichen Lichtreflexen/Widerspiegelungen die weiße Haut ihres Gesichtes. Sie lächelte darunter in der/bei der milden/lauen Hitze; und man hörte die Wassertropfen, einen um den anderen, fallen auf die gespannte Seide.«
Flaubert verwendet für den Stoff des Schirms zwei Wörter: zunächst »soie«, ›Seide‹, am Ende des Absatzes aber »moire«, das eigentlich ›Mohair‹ bedeutet, zu Flauberts Zeit aber auch Stoffe mit changierender Oberfläche bezeichnen konnte. Hier also wird erneut der Glanz betont.
Zudem wiederholt sich im letzten zitierten Satz die Strichpunktstruktur: wieder werden andauernder Rahmen – Emmas Lächeln – und neue Ereignisse – das Fallen jedes einzelnen Wassertropfens – herausgestellt. So gelingt es, sprachlich ein Bild mit Bewegung zu malen.
Die Übersetzungen, wiedergegeben in alphabetischer Autorenfolge, gewinnen und verlieren, treten auf je eigene Weise in das Mosaikspiel Sinn und Sprachmusik:
RENÉ SCHICKELE / IRENE RIESEN, 3. verb. Aufl. Zürich 1987:
»Sie stand schon in der Tür; sie kehrte aber um, holte ihren Sonnenschirm und spannte ihn auf. Durch die taubenhalsfarbene Seide des Schirms drang die Sonne und warf unruhige Reflexe auf die weiße Haut ihres Gesichts. Sie lächelte in der lauen Wärme unter dem Schirm; und man hörte die Wassertropfen, einen nach dem anderen, auf die gespannte Seide fallen.«
WOLFGANG TECHTMEIER, 2. Aufl. Berlin 1970:
»Sie war auf der Schwelle; sie holte ihren Schirm, sie spannte ihn auf. Den Schirm aus taubengrauer Seide, durch den die Sonne schien, erhellte die weiße Haut ihres Gesichtes mit hin und her huschenden Lichtreflexen. Sie lächelte in der milden Wärme; und man hörte die Tropfen einzeln auf die gespannte Seide fallen.«
CAROLINE VOLLMANN, München, Zürich 2003:
»Sie stand auf der Türschwelle; sie holte ihren Sonnenschirm und öffnete ihn. Der Schirm aus taubenblauer Seide, durch den die Sonne schien, warf flüchtige Reflexe auf die weiße Haut ihres Gesichts. Sie lächelte darunter in der lauen Wärme; und man hörte die Wassertropfen, einen nach dem andern, auf die aufgespannte Seide fallen.«
Aufgabe 1
Erfinden Sie einer Ihrer Figuren ein Kleidungsstück, das ähnliche Funktionen wie Charles Bovarys Kappe übernimmt.
Aufgabe 2
Analysieren Sie an einem Ihrer eigenen, bereits geschriebenen Texte, wie Sie Verknüpfungen erzeugen. Wo etwa gebrauchen Sie Worte wie »und« oder »oder«, wie »jedoch« und »weil«? Was geschieht, wenn Sie diese Worte probehalber streichen?
ULRICH GREINER
Standbilder eines Chronisten
Adalbert Stifter: Witiko [1865/67]
Eigentlich war ich immer der Ansicht, dass Dichterschulen ein Missverständnis sind. Was man dort lernen könne, so dachte ich, ist die Einübung in jene mittlere Prosa, die vielleicht in Klagenfurt und dann bei talentsucherischen Lektoren eine Chance hat. Diese Prosa zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie keine Fehler macht. Man merkt ihr an, dass der Autor die wesentlichen Voraussetzungen des schreiberischen Handwerks begriffen hat. Er beherrscht die Syntax, er meidet Stilblüten, allzu komplexe
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