Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Detail zu folgen, bis hinein in die Orthographie. Denn es ist kein Zufall, dass eben nun jenes Zeichen erscheint, das Flaubert besonders raffiniert einzusetzen weiß: der Strichpunkt. Angesichts der Kürze des Satzes ist offenkundig, dass er nicht gesetzt wurde, um Komplexität zu reduzieren. Im Gegenteil, er soll die nach der Beschreibungskaskade plötzlich eingeleitete sprachliche Entschleunigung betonen. Sätze hinter Strichpunkten weisen bei Flaubert gern auf thematische Knäuel (dieses hier heißt ›Glanz‹. Was, wie, wo, warum und für wen in diesem Buch glänzt, füllte mühelos eine eigene Studie) – kein Wunder, dass ein Autor, der seinen Roman mit soviel Nähwerk eingeführt hat, Fäden denkt, Schlingen knüpft, damit spielt und darüber stolpern lässt.
Aus dem bereits Gesagten ergibt sich mit erschreckender, fast mechanischer Konsequenz: die Madame Bovary der Zukunft wird mit einer Dreiheit und Nähwerk verbunden vor unseren Augen erscheinen. Und für uns alle, à l’étude, ergibt sich die Frage, wie sehr das, was wir als schön und folgerichtig empfinden, mit Wiederholung und Gesetzmäßigkeit verbunden ist. Wenn man sich hier ansieht, wie Sätze, Absätze, Handlungen intern verknüpft werden, wie ein Stück Text beginnt, sich aus sich selbst zu schreiben, begreift man, meine ich, etwas vom Kern von Literatur. Jenem Kern, der sich so gern entzieht und den meisten ein Leben lang verborgen bleibt.
Kapitel Zwei: Mitten in der Nacht wird Charles aus dem Bett geholt. Ein Bauer, dessen Hof sechs Wegstunden entfernt liegt, hat sich das Bein gebrochen. Charles packt, seine Frau fürchtet um ihn, sie ist hässlich, aber liebt ihn, ihm ist das egal, er träumt auf seinem Pferd, es scheut, als er den Hof endlich erreicht und Charles, Held der Kappe, des Sehens und Nichtsehens, reitet ein: »Eine junge Frau in einem blauen, mit drei Volants besetzten Merinobaumwollkleid kam auf die Schwelle des Hauses, um Monsieur Bovary zu empfangen, den sie in die Küche eintreten ließ, wo ein großes Feuer loderte.«
Charles hat Glück, einen leichteren Fall als Bauer Rouaults glatten Bruch hätte er sich nicht wünschen können. Der Arzt verbindet, die Magd zerreißt Tücher, während Mademoiselle Emma »kleine Polster zu nähen versuchte. Da sie lange brauchte, ehe sie ihr Nähkästchen fand, wurde ihr Vater ungeduldig; sie antwortete nicht darauf; aber beim Nähen stach sie sich dauernd in die Finger, die sie dann zum Munde führte, um an ihnen zu saugen«.
Geschickt gemacht. Emma näht, wie erwartet, tut dies aber in einem besonderen Kontext, denn sie fertigt Polster. Eines hatten wir übrigens schon auf der Mütze zu sehen bekommen. Emma aber ist ungeschickt, sticht sich, saugt an den Fingern, sexuelles Begehren schiebt sich in Sprache und Szene. Eben damit geht es weiter, denn nun wechselt, zum ersten Mal im Buch, der Blick. Wir sehen direkt mit Charles, als bekomme er Augen nur, weil Emma erschienen ist: »Charles war von dem Weiß ihrer Fingernägel überrascht. Sie waren glänzend …«
Schauen wir uns das noch einmal von vorn an, um festzuhalten, was parallel geschieht. »Nous«, eine Gruppe halbpubertierender Jungen in der französischen Provinz, ist »beim Lernen«: Vokabeln, Grammatik, Wörter also und deren Verknüpfung. Da kommt ein Neuer, er trägt eine unerhörte Kappe, bleibt stumm, nur seinen Namen schreit er heraus. Grob, rötlich, steht er da. Wir waren beim Lernen. Der Erzähler führt sich ein, großes »Uns« am Anfang, schaltet sich kurz darauf selbst aus. Denn da ist Charles, mit einem mittelalterlichen Programmmeisterwerk auf dem Kopf – Spiegel des Stückwerks Leben, das ihn erwartet. Das die Stimme, die spricht, die »nous« sagt »et l’autre« – und »l’autre« ist die Romanfigur -, aus einem Guss gießt. Mit Hilfe der Kunst der kleinen Wörter, der Adjektive, Konjunktionen, der Motivabfolgen – blau ist das Siegel des Bauern Rouault, blau ist Emmas erstes Kleid – und des Strichpunktes. Mit Rhythmus und Bild. Die Kappe bereits ist Kunstwerk des Übergangs: Kordeln, Schnüre, Borten, Beutel, Stickerei. Artefakt aus Verschiedenem, das nicht eines ist, aber zusammengehören kann. Flaubert stellt mit Madame Bovary ein Artefakt her, lässt uns eben dies wissen, und verführt uns dann, die Artifizialität sogleich wieder zu vergessen. Auch Virginia Woolf, etwa in Mrs. Dalloway , wechselt in der Erzählperson das Geschlecht, wenn die Erzählstimme von Mrs. Dalloways inneren Monologen
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