Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Sätze, die ich Transportsätze nenne und die gleichförmig sind und auf Schienen laufen wie Güterwaggons und einzig dem Vorankommen der Handlung dienen. Oder Wendungen, die einem bestenfalls ein flaches, blasses Gefühl geben oder die fühllos bleiben. Wenn ich Rolltreppe lese, ist es, als hätte ich statt einer Brille ein magisches Mikroskop aufgesetzt.
Als Kinder haben wir ein Spiel nach dieser Methode gespielt. Man musste dazu verkehrtrum durch ein Fernglas auf seine Füße schauen und dabei versuchen, einen Teppichrand entlang zu gehen. Das war schwierig, denn die Füße schienen durch die Verkleinerung meterweit entfernt, und man kam schnell ins Taumeln. Es war, als ginge man auf Stelzen über ein Hochseil. An dieses Spiel musste ich auch denken, als ich anfing, von der sonderbaren Faszination zu schreiben, die Computer und die ganze digitale Technik hervorrufen. Wir benutzen neue Technologien, und vieles, das bisher einfach war, fühlt sich plötzlich komplex und schwierig an. Es wäre ganz einfach, ohne Fernglas den Teppichrand entlang zu gehen. Aber es wäre nicht innovativ.
Mit Rolltreppe ist Baker auch ein bemerkenswerter technologischer Vorgriff gelungen. Ständig verzweigt der Text in opulente Fußnoten, in Wahrheit brillante Miniaturessays, und diese Störungen des herkömmlichen Leseflusses helfen uns bereits mehr als dies die meisten anderen literarischen Texte tun, eine Anstrengung zu unternehmen, die so unangenehm wie notwendig ist, wenn man etwas darüber wissen will, wie Literatur gemacht wird, nämlich in eine beobachtende Distanz abzurücken, mit dem technischen Auge zu lesen und damit aus dem unschuldigen Genuss des hinnehmenden Lesens auszusteigen in die Arbeit des Schriftstellers.
Als 1988 die englische Originalausgabe erschien, mochte Rolltreppe mit den vielen, langen Fußnoten (eine davon geht über 9 Seiten) und der enzyklopädischen Gründlichkeit der Beschreibungen in manchem wie eine Parodie auf eine wissenschaftliche Arbeit wirken. Die Fußnotenfülle erhebt Nebensachen zu Hauptsachen, aber es wird schnell deutlich, dass die Nebentexte sich vom Haupttext einzig durch die Richtung unterscheiden: Sie führen nicht nach vorn, sondern zweigen ab. Als 1994 das Internet in die Öffentlichkeit hinausexplodierte und die Idee der Verlinkung von Texten populär wurde, offenbarte sich Bakers Fußnotenphilie in ihrer ganzen Modernität. Wer mit irgendeiner Form netzaffiner Literatur liebäugelt, wird also ebenfalls nicht vermeiden können, sich an Rolltreppe abzuarbeiten.
In einem Buch, in dem es zentral um die Abnutzung eines Paars Schuhbänder und die Erkenntnisgravitationswellen geht, die durch ihr Abreißen ausgelöst werden, gehören Fuß-Noten als Stilmittel im übrigen zum Nächstliegenden. Sie erlauben das ständige Abweichen von der eigentlichen Geschichte (oder von dem, was man für die eigentliche Geschichte halten könnte) in scheinbar Peripheres. Objekte, die vor einen sauberen Hintergrund gestellt werden etwa (»sobald man ein Detail der Welt derart absetzte, konnte es als Gegenstand des Interesses zu wahrer Größe gelangen«). Oder Milchkartons, und wie sich die Art der Milchzustellung mit der Zeit verändert hat (»Heute kommt kein Milchmann mehr«).
Durch eine Fülle schöner und bemerkenswerter Alltagsbeschreibungen schimmern dann ab und zu, wohlgesetzt und lakonisch, die Konturen einer Entwicklungsgeschichte, einer Liebesgeschichte, des Heranwachsens: »Und glücklicherweise kann ich mich genau an den Tag erinnern, an dem mein Leben als Erwachsener begann.« Es passiert in der U-Bahn, bei dem vergeblichen Versuch, von einem der Handgelenke anderer Fahrgäste die Uhrzeit abzulesen (nachdem Howie seine Armbanduhr die Woche zuvor unter Androhung von Gewalt geraubt worden war). Wohlgesetzt und lakonisch: Auch verschiedene Lautstärken von Humor kann man bei Baker gut studieren, Parodie ist das Buch auch auf die Parodie schlechthin, zu deren Prinzipien ja die Übertreibung gehört ( Rolltreppe ist die Untertreibung schlechthin); die bevorzugten Stilmittel aber sind die Ironie – das Lächeln, das man nicht sieht, nur spürt – und die Königsform des Komischen, die Lakonie.
Es gibt Dinge, die nur mit Literatur gesagt werden können, mit nichts anderem: »Ich hätte ihr gern gesagt, wie flink sie sei«, vermerkt Howie über eine Kassiererin im Supermarkt, »wie sehr es mir gefiele, dass sie die Bewegungen und Abkürzungen herausbekommen hatte, durch die Bargeldabwicklungen
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