Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
die auch der Laie ohne weiteres nachvollzieht, in einem sicheren, gelassenen Ton formuliert, der uns durch die zwölf Kapitel dieses Arbeitskalenders führen wird. »Jetzt herrscht bei den Bienen vollkommene Ruhe«: Welch ein ungeheuerlicher Auftakt aber für ein Bienenbuch, im Januar, »Am Bienenstand« – es gibt für uns, für den Beobachter, den Imker, nichts zu sehen, nichts zu tun.
Um die Wucht des ersten Satzes zu spüren, muss man bis zum Ende des Dezemberkapitels lesen, wie mir nun aufgeht, da ich an den Anfang zurückgeblättert habe, und vielleicht sollte man sich auch an die Eingangspassagen anderer Bienenbücher erinnern, an Frühjahrsbilder, Bienenwiesen, an Honiglob oder an gravitätisch klingende Herleitungen heutiger Imkerei aus der langen Geschichte des Zusammenlebens von Mensch und Biene. Dagegen Lieselotte Gettert, beiläufig und genau: Im Januar sieht jeder, der es wagt, sich einem Bienenstock zu nähern, dass nichts geschieht.
Der Leser ist sofort gebannt. Die Imkerin hat es mit leichter Hand verstanden, in einem Satz von sieben einfachen Wörtern eine Spannung aufzubauen, die sich, wir spüren es, mit den folgenden Sätzen entladen muss. So funktionieren die klassischen Winterbilder: Die weiße Fläche, wenig Licht, keine Bewegung. Dann Einbruch der Naturgewalt, oder der Auftritt eines Menschen, der alles zum Einsturz bringen wird. Wer uns das leere Januarblatt zeigt, der wird, kein Zweifel, im nächsten Moment darauf die ersten Anzeichen der kommenden Katastrophe einzeichnen. Doktor Schiwago lebt davon, James Bond führt es im Kino regelmäßig vor, und Tim in Tibet ruft mit seinen weißen Seiten konsequent alle Schneebilderwartungen des Lesers auf.
Lieselotte Gettert erweitert das Arsenal der Leere um eine neue Variante, indem sie vor unseren Augen mit raschen Strichen zwei Tragödien im Konjunktiv entwirft: Zum einen kann schon »die Erschütterung beim Betreten eines Bienenhauses oder Hantieren am Freistand« für das überwinternde Bienenvolk eine lebensbedrohliche Störung bedeuten, »das Volk braust auf, Temperatur und Zehrung erhöhen sich« – der Topos des unheilbringenden Menschen. Zum anderen die tödliche Kraft der Natur, hier in Form von Schnee, der sich bei starkem Schneefall vor den Fluglöchern sammelt: »Der Schnee ist zwar luftdurchlässig, wenn er aber schmilzt und danach wieder vereist, könnten die Bienen in Not geraten.« Im einen wie im anderen Fall wäre Mein Bienenjahr nach kaum einer Viertelseite Text am Ende angelangt, Erzählen nur mehr in der Rückschau möglich.
Einer schlichten Beobachtung von Nichts folgt das geballte Wissen der Autorin, der arglose Laienblick trifft auf die unendliche Imkerimagination: Mehr als zwei knappe Absätze voller Dramatik hat es nicht gebraucht, die Imkerin hätte uns kaum geschickter in ihre Bienenwelt ziehen können. Erst jetzt nämlich begreifen wir, was wir in dieser Eröffnungsszene hingenommen haben, ohne, wie sonst so gern, zu klagen: Lauter Begriffe, die wir als Laien nicht verstehen. Im Gegenteil, wir haben uns, von der sicheren Stimme der Imkerin geleitet, voller Erwartung ein ungefähres Bild gemacht vom »Freistand«, von der »Zehrung« und vom »Brausen«, und wenn wir die Bedeutung dieser Wörter, wie wir ahnen, auch nicht eindeutig erfassen, so können wir sie, im Vertrauen auf die Imkerin, doch als unbekanntes Material, als fremde Einschüsse, als kleine weiße Flächen im Text stehenlassen, ohne gleich Unheil zu erwarten.
Vielleicht ahnen wir an dieser Stelle ebenso, dass es uns nicht gut tun würde, nun aus dem Fluss der Sätze auszubrechen, uns dem Blick der Autorin zu entziehen und gewissermaßen hinter ihrem Rücken an das Buchende zu blättern, um im Register nachzuschauen und dann, als wäre nichts geschehen, als schlaue Imkerschüler an den Anfang zurückzukehren – nach Einträgen wie »Brausen«, »Freistand«, oder »Zehrung« sucht man im Register natürlich vergebens. Und hat nicht Lieselotte Gettert gleich im zweiten Satz ein »Wir« genannt, ein offenes, das uns einlud, in der Nähe zu bleiben, weil sie uns Einblicke in den Bienenstock gewähren will?
Beobachtungen machen und dafür Worte finden. Sich ein Vokabular aneignen und es auf Gesehenes anwenden. Die zwei Bewegungen greifen so eng ineinander, dass sie nicht zu trennen sind. Da stoßen wir immerfort auf Begriffe, deren Bedeutung sich uns nur durch andere Begriffe erschließt, sofern wir keine praktische Bienenerfahrung haben. Da stoßen
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