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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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Form auch immer sie in der kindlichen Erinnerung auftauchen, herauszugreifen – und hat man diese kindlichen Erinnerungen erst abgerufen, dann muss man damit leben, dass sie beständig dazu neigen, die fragmentarische Historiographie mit dem Geigenschmalz vergangener Rührung zu versauen«. Ein Gefühl, wie gesagt, ist noch gar nichts. Erst durch eine Art von übergeschlechtlichem Dornröschenkuss, den man der Sprache beim Schreiben unbedingt aufdrücken sollte, erheben sich die Dinge manchmal in eine neue, nie gekannte Frische, Dinge, die scheinbar altbekannt und tausendmal gesehen waren.

Aufgabe
    Klar ist eine Geschichte, die eine interessante Handlung hat, gut. Sich eine gute Geschichte auszudenken, ist vielleicht nicht ganz einfach. Und erst, wenn Sie mal das Gegenteil versuchen. Versuchen Sie es doch.
    Sammeln Sie Beobachtungen. Botanisieren Sie Wirklichkeit und bauen Sie eine Geschichte, ohne auch nur einen Moment an eine tragende Handlung zu denken. Schreiben ist auch etwas wie die Fortsetzung der Alchemie. Man fügt Teile zueinander und hofft, dass daraus Gold oder Leben wird. Es geht um die Qualität der Teile, und wie sie zusammengefügt sind. Man darf die Rüstung nicht scheppern hören, und man sollte den Leser nie spüren lassen, dass einen bestimmte Teile besonders viel Arbeit gekostet haben. Vor allem diese Teile sollten sich federleicht und lakonisch lesen.
    1940 schrieb Hemingway an seinen Verleger, Charles Scribner, ihm gefalle am Krieg, dass es jede Nacht möglich sei, getötet zu werden, das heißt, am nächsten Tag eventuell nicht schreiben zu müssen. Schreiben ist erstaunlich anstrengend, meistens jedenfalls, und in den seltenen Fällen, in denen ich das Gefühl hatte, dass es nicht anstrengend war, wars meistens heiße Luft. Wenn aber alle Teile gut sind und von hoher Qualität, wird sich zwischen ihnen eine Resonanz ergeben und sie werden sich zu einer guten Geschichte fügen, auch wenn man sich eine Handlung, versuchen Sie das, ausdrücklich verbietet.
    Dazu abschließend Baker: »Ich spürte, wie ich in die beschienene Fläche hineinfuhr: meine Hand wurde golden (…); ein Bügel meiner Brille begann durch Glitzern auf sich aufmerksam zu machen. Die Verwandlung erfolgte nicht unmittelbar; sie schien ungefähr so lange zu dauern, wie die Drähte eines Toasters brauchen, um orange zu werden. Es war der letzte große Höhepunkt der Mittagspause; möglicherweise der beste Teil der Fahrt auf der Rolltreppe.«

MARCEL BEYER
    Mein Bienenjahr lesen
    Lieselotte Gettert: Mein Bienenjahr [1991]
    Auf dem Buchumschlag sehen wir die Autorin bei der Arbeit: Sie steht hinter einer offenen Magazinbeute und fegt mit einem feinen Abkehrbesen Bienen von der gut gefüllten Zanderwabe in den Honigraum zurück. Am Rahmen krabbeln Bienen hin und her, im Hintergrund einige braune Flecken in der Luft, die meisten Tiere aber haben sich anscheinend bereits tief in die noch mit vollen Waben belegte Beute zurückgezogen, der Smoker ist schon einige Augenblicke vorher zum Einsatz gelangt. Die Imkerin trägt eine Bluse mit kurzem Arm, keine Handschuhe, keinen Hut. Ein Bild äußerster Konzentration. Ein Bild der Reflexion. Äußerster Körperbeherrschung. Sprachbeherrschung.
    Ein Glücksgriff. Mein Bienenjahr. Ein Arbeitskalender für den Imker von Lieselotte Gettert – bei der Wahl des Buches habe ich mich allein vom Titel leiten lassen, das Zusammenspiel von Poesie und Sachlichkeit zog mich magisch an. Ein Erfahrungsbericht aus vierzig Jahren eigener Imkerei, der Anfängern eine Einführung in die Bienenhaltung geben soll und Kollegen Einblick in die eigene Arbeit gewährt, jenseits aller Geheimniskrämerei. Aufforderung zum Austausch, Bienenüberlegungen, in zwölf klar aufgebauten Kapiteln von Januar bis Dezember. Insofern ist dieser Arbeitskalender genau das, was im Untertitel versprochen wird. Der Haupttitel indes verspricht noch etwas anderes, das Possessivpronomen und der suggestive Ausdruck Bienenjahr eröffnen ein weiteres Feld, auf dem wir uns, die Leser, Schreibenden, als honigmachende Insekten bewegen können, im Buch, auf unserer Bienenwiese. Wir imkern nicht, wir machen keinen Honig, wir sammeln weder Honigtau noch Pollen – und eben darum lesen wir Mein Bienenjahr als ein konziser kaum vorstellbares Werk, das uns etwas über das Schreiben sagt und zugleich vorführt, wie Schreiben vonstatten gehen kann.

    »Jetzt herrscht bei den Bienen vollkommene Ruhe«: Ein schlichter Satz, eine klare Beobachtung,

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