Erstens kommt es anders ... (German Edition)
seltsamerweise alle in diesem Raum blieben.
»Er hat sich verändert ...«
Fragend blickte sie zur älteren Ausgabe des Gesichts auf, das sie gerade im Geiste vor sich gesehen hatte. Über ihre Verwirrung musste er lächeln. »Michael. Er hat sich in den letzten Monaten sehr verändert.«
»Das kann ich schlecht beurteilen, ich kenne ihn ja erst seit einem knappen Jahr.«
»Leider.« Forschend musterte sie ihn, doch mehr wollte Victor Rogers zu diesem Thema nicht beitragen. Stattdessen begann er auf die bereits bekannte Masche zu plaudern, indem er sie über jeden anwesenden Gast genauestens aufklärte. Gut, sehr weit kamen sie nicht, dafür hätten sie möglicherweise einhundert Abende benötigt. Zu ausnahmslos jedem wusste er eine Anekdote zu erzählen, die er auf die ihm eigene ausschweifende, aber niemals langweilige Art zum Besten gab.
Kurz darauf landete Stevie in den Armen eines älteren, sehr großen und etwas grobschlächtig wirkenden Herren, der sich mit einer knappen Verbeugung als Aaron Mitchel vorstellte. Hierbei handelte es sich um Michaels Patenonkel.
Erstaunlich witzig und charmant wirbelte der Mann sie umher, sodass Stevies Füße hin und wieder komplett den Boden verließen. Als der Song ausklang, entließ er sie aus seiner Rippen brechenden Umarmung, geleitete sie von der Tanzfläche, verbeugte sich abermals sehr höflich und ging.
Kaum sah sie sich suchend um, stand Michael vor ihr und grinste fragend. Stevie lächelte und im nächsten Moment befand sie sich erneut zwischen den tanzenden Paaren.
In seinen Armen!
Mit der gleichen unbekümmerten, grandiosen Leichtigkeit wie zuvor sein Vater, führte er sie. Eine Hand hielt ihre, die andere lag auf ihrem Rücken.
Das genügte, um Stevies Aschenputtelmärchenabend noch ein wenig märchenhafter und damit beinahe perfekt zu machen.
Als sich mit Beginn des nächsten Titels die Tanzfläche leerte, wollte auch Stevie gehen. Es handelte sich um ein sehr langsames, tragendes Stück. Doch Michael hielt sie zurück, sein Lächeln war plötzlich verschwunden und Stevies erster, flüchtiger Gedanke lautete:
Flucht!
Aber bevor sie den in die Tat umsetzen konnte, hatte er sie bereits an sich gezogen und Stevie war verloren.
Endgültig.
Unzählige Male hatte sie davon geträumt, in seinen Armen zu liegen und überlegt, wie es sich anfühlen musste, ihn zu berühren und das zu spüren, was sich unter seinem Hemd nur schemenhaft abzeichnete. Mutmaßungen, die nie besonders plastisch geworden waren, jedoch gehegt und gepflegt, wie eine Kostbarkeit, die für sie immer unerreichbar bleiben würde.
Wie oft hatte sie ihm Geiste seine Arme berührt und endlich ihre Finger über die sehnigen Muskeln gleiten lassen, die sie seit über einem Jahr trotz seines Hemdes beinahe täglich zu sehen bekam? Endlose Male hatte sie es geliebt, sich seiner überwältigenden, männlichen, so starken Umarmung hinzugeben und zu vergessen, sich fallen zu lassen, nicht mehr zu denken – bloß zu genießen.
Schlaflose Nächte, unendliche, einsame Stunden.
Teil ihres heutigen Märchens war wohl, dass sie es endlich erleben durfte. Und sie verwarf jeden so törichten Gedanken an eine Rettung in letzter Sekunde, die sie nicht wollte und die momentan ohnehin nicht möglich gewesen wäre.
Manchmal ist eine Situation zu überwältigend, um gegen sie ankämpfen zu können. Man hat verloren, bevor man auch nur die Gelegenheit erhält, in die Schlacht zu ziehen.
Es fühlte sich wie eine Befreiung an, endlich ihrem größten Wunsch nachzugeben: In seine Arme sinken und hinauf in seine brennenden Augen blicken, das war es. Mehr hatte sie nie gewollt, zumindest sorgte ihr Märchen und der Champagner dafür, dass Stevie derzeit daran glaubte.
Gott, wie sehr sie ihn liebte!
Verdammt! Nur mit Mühe gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten, die sie ganz plötzlich zu überwältigen drohten. Unwiderstehlich, so drängend und atemberaubend, dass sie beinahe versagt hätte. Denn für keine Sekunde vergaß sie – nicht einmal an diesem Abend, der nur aus kitschigen und vielleicht gerade deshalb so wundervollen Illusionen bestand –, dass genau er der einzige Mann war, den sie nicht lieben durfte.
Auch so ein Grund, der die Erweiterung ihres Vokabulars unverzichtbar machte.
Scheiße!
* * *
W ieder einmal wurde Michael bewiesen, dass in Bezug auf Stevie Grace jede Planung unmöglich war.
Jedenfalls jede, die annähernd realistisch ausfiel. Es gehörte zu seinen Angewohnheiten, seine
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