Erstens kommt es anders ... (German Edition)
Plädoyers und Verhöre vorher in Gedanken durchzuspielen, sich auszumalen, wie die Geschworenen, die Zeugen oder auch der Richter auf seine Äußerungen reagieren würden.
Mit den Jahren hatte er eine recht gute Treffsicherheit in seinen Vorhersagen erreicht und diese Technik auf weitere Bereiche seines Lebens ausgedehnt. Allerdings fand sie bei Frauen nicht häufig Verwendung, weil Michael in dieser Richtung selten etwas plante.
Bei Stevie sah das anders aus. Denn hier versagte sein sonst so untrüglich geglaubter Instinkt.
Oft hatte er sich bereits ausgemalt, sie endlich wirklich bei sich zu haben. So nah, dass ihre Körper nichts mehr trennte. Nicht bloß im Bett, dort hörten seine Fantasien nicht auf. Er hatte sie gemeinsam beim Tanzen gesehen und in jeder anderen Situation, in der eine Umarmung möglich war. Und nun musste er einsehen, dass es keiner seiner Träume mit der Realität aufnehmen konnte. Klein und zierlich gebaut fühlte sie sich unter seinen großen Händen zerbrechlich und empfindsam an. Ein unbezahlbarer Schatz mit glatter, weicher Haut, grazilen Füßen, schmalen Schultern und riesigem, fragendem, sehnsüchtigem Blick. Ihre Bewegungen erfolgten so elegant und sicher, dass keine Führung erforderlich war.
Michael tanzte gern, wenn auch nicht unbedingt zu solchen Anlässen. Er galt in dieser Disziplin als erfahren und routiniert, doch noch nie hatte es ihm ein derartiges Vergnügen bereitet. Offenbar konnte sie seine Gedanken erahnen und passte sich ihm mühelos an, ohne dass er sie lenken musste. Ihr zierlicher Körper berührte seinen, der süße, betörende Duft umnebelte seine Sinne. Selten hatte er die Präsenz einer Frau mehr wahrgenommen, er spürte sie, als befänden sie sich längst ganz woanders, am Ziel seiner Wünsche, in seidigen Daunen und ...
… er hätte am liebsten seinen Zorn in die Weiten des Ballsaals gebrüllt!
Denn Michael sah in ihrem Blick, was auch er empfand, alles schien so unendlich perfekt. Doch im nächsten Moment verdüsterte sich ihre Miene und sie senkte den Kopf. Verzweifelt hob er ihr Kinn, musterte forschend ihre Augen, wartete auf ihre Erklärung und ging wie üblich leer aus. Nach einer Weile war er bereit, die Niederlage zu akzeptieren und wünschte sich zum wiederholten Mal, diese Frau nur endlich verstehen zu können!
War das denn zu viel verlangt?
Als jedoch ihre Stirn mit einem kaum hörbaren Seufzen an seine zu ihr hinab geneigte sank und sie die Augen schloss, verschwand sein Zorn. Wie von selbst bettete er eine Hand zärtlich auf ihrem Haar und zog sie fester an sich. Vergessen waren Musik, Gäste und vor allem ihre Aufgabe, sich zur Musik zu bewegen, um die Gäste zu unterhalten.
Irgendwann regte sie sich in seinen Armen, doch erst, als er Stevie ansah, erkannte auch Michael, dass die Band längst zu spielen aufgehört hatte und zahllose neugierige Blicke auf ihnen lagen.
Verdammt!
Hastig ließ er sie los und nahm ihre Hand. »Komm!«
Ohne Umwege führte er den ungekrönten Star des Abends aus dem Saal. Vorbei an Renata, die wie ein Racheengel die Augen zusammenkniff, Aaron, der seltsamerweise resigniert und Alicia, die relativ ratlos wirkte. Victor strahlte, Diana hatte wie üblich ihren Seht-an-der-Idiot-bekommt-es-doch-noch-gebacken Blick aufgesetzt, weil sie eben wie üblich keine Ahnung hatte. Doch all die Menschen interessierten Michael im Grunde nicht wirklich. Er wollte diesen Ort nur so schnell wie möglich verlassen.
Denn er erschien wie eine fremde Macht, die in der Lage war, sie ihm vorschnell zu rauben und das, wo er doch wusste, dass der Zeitpunkt der Trennung ohnehin kurz bevorstand.
Es hieß, jede verfügbare Sekunde auszukosten. Diesbezüglich kannte Michael sich aus. Geschenkt wurde einem bei dieser Person nämlich überhaupt nichts!
Sie folgte ihm wortlos und zunächst ohne jede Gegenwehr, bis absehbar wurde, wohin die Reise ging. Abrupt ließ sie seine Hand los und blieb stehen. »Was ...?«
»Vertrau mir«, lächelte er. »Komm!«
Stirnrunzelnd betrachtete sie ihn und nahm schließlich zögernd erneut seine Hand. Wieder ein kleiner Etappensieg, auch wenn sie das mit Sicherheit nicht erkannte. Was vielleicht auch besser war, wenn er es recht bedachte.
Angekommen im Büro führte er sie zu ihrem Stuhl. »Nimm Platz!«
Das tat sie und er setzte sich neben ihr auf die Tischkante, das hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr getan. Der argwöhnische Blick war daher wohl eher Programm und wurde von Michael strikt
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