Erstens kommt es anders ... (German Edition)
abermals stundenlang auf dieser Bank verharrte. Am Freitag begab er sich bereits im Morgengrauen dorthin. Der Obdachlose, dem sie als Nachtlager gedient hatte, räumte unter lauten Flüchen den Platz, nachdem Michael ihn recht unsanft geweckt hatte.
Und kaum saß er, spürte er jene Ruhe, die ausschließlich dieser Ort für ihn bereithielt.
Irgendwann tauchte eine Papiertüte vor ihm auf und jemand setzte sich neben ihn.
Bevor er mit dem Hoffen beginnen konnte, wurde es jäh zerstört. »Frühstück!«
Energisch schüttelte er den Kopf. »Ich will jetzt nicht essen.«
Nach einem tiefen Seufzen schwieg sie. So ging es eine ganze Weile, was äußerst ungewöhnlich war. Üblicherweise redete diese nervige Person unentwegt. Pausenlos schwafelte sie vor sich hin und schien keinen Sauerstoff zu benötigen. Michael wusste ganz genau, woher diese Tendenz stammte. Kaum gedacht, schlugen seine Gedanken eine Richtung ein, die derzeit zu den absoluten Tabuzonen gehörte. Eher, um sich abzulenken, als aus echtem Hunger, von Appetit wollte er erst gar nicht beginnen, nahm er ihr schließlich die Tüte ab. Bedächtig wickelte er eines der Sandwiches aus der Folie und begann zu essen. Es schmeckte wie Pappe. Scheinbar hatten inzwischen auch seine Geschmacksnerven gelitten.
Das Schweigen hielt sogar noch etwas länger an, irgendwann erreichte sie jedoch ihre ultimative Schmerzensgrenze. Wie zu erwarten gewesen war. »Er wusste, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist.«
Die Antwort ersparte Michael sich.
»Bereits vor Wochen kam er zu Marcel und mir, weil er wissen wollte ...« Anstatt den Satz zu Ende zu bringen, schüttelte sie den Kopf. »Er wusste, dass er nicht mehr lange leben würde.«
»Das ist Blödsinn!« Michael klang dumpf und sah sie nicht an. »Er war kerngesund!«
»Ich sagte nicht, er sei krank gewesen, sondern er ahnte, dass seine Zeit zu Ende ging!«, beharrte Diana.
Ohne zu antworten, biss Michael von seinem Pappbrot ab, betrachtete die Passanten, die wie immer eilig an ihnen vorbei liefen, und schwieg.
Diana schien bereits ihr gesamtes Pulver verschossen zu haben, denn auch sie verlor kein Wort. Nach einer Weile lehnte sie den Kopf an seine Schulter. Er hörte ihr Weinen, legte einen Arm um sie und zog sie an sich. »Es ist gut«, murmelte er und küsste ihre Stirn.
»Nichts ist gut«, widersprach sie weinend.
Diesmal hielt sich das Schweigen für sehr lange Zeit. Bis Diana sich ausreichend kontrollieren konnte. Seine Schwester zeichnete ungeheuerliche Stärke aus, ging ihm gerade auf. Viel mehr, als er besaß. Doch selbst sie brauchte Gelegenheit, um ihren Vater zu trauern. Das hatte sie getan und nun war sie bereit, die erforderlichen Dinge anzugehen. Mit anderen Worten: Ihren Lieblingsbruder in den Wahnsinn zu nerven.
»Wo ist Stevie?«
Abrupt erstarrte er, dann bewegten sich seine Kiefer langsam weiter. Michael kaute immer noch an dem Bissen, den er sich vor mehreren Minuten in den Mund geschoben hatte. »Zu Hause, vermutlich.«
»Wie hat sie es aufgenommen?«
»Was glaubst du?« Flüchtig musterte er sie von der Seite.
»Hast du ihr auch das andere gesagt?«
Michael ließ sich Zeit, nahm den nächsten Bissen, kaute sehr intensiv, schluckte. »Nein!«
»Warum?«
Hörbar atmete er aus. »Diana, das verstehst du nicht!«
»Da muss ich dir ausnahmsweise mal beipflichten!«
Seufzend schloss er die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Nach einiger Zeit ertönte seine mutlose Stimme. »Ich weiß nicht weiter, Diana. Alles scheint vorbei. Dad ist fort, Stevie ...« Michael holte tief Luft. »Ich denke, nach der Beisetzung verschwinde ich für eine Weile.«
»Wohin?« Es kam beiläufig.
»Nur weg. Weit weg. Nachdenken, in Ordnung?«
»Wie lange?«
»Zwei Wochen, maximal. Ich habe nicht vor, auszusteigen und mein Leben ab sofort als alternativer Farmer zu verbringen. Ich will ein wenig denken und alles eine Weile hinter mir lassen.«
»Ich verstehe.« Es klang absolut nicht danach, als würde Diana irgendetwas verstehen, doch sie bohrte nicht weiter, wofür er wirklich dankbar war. Nach einer Weile hob sie erneut an. »Wirst du Stevie zur Beisetzung einladen?«
Bitter lachte er auf. »Momentan will ich nicht einmal an sie denken! Mit Sicherheit werde ich sie nicht auch noch auffordern, dort zu erscheinen!«
»Du wirst sie vermissen, wenn es so weit ist.«
Das überdachte Michael sorgfältig und nickte endlich widerwillig. »Mag sein. Aber damit kann ich leben.«
Nach einer Weile
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