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Erwachen

Erwachen

Titel: Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kenner
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wobei ich nicht sagen könnte, warum ich mich befleißigt fühlte, ihm das mitzuteilen.
    Seine Stirn legte sich in Falten, dann drehte er sich wieder zum Steuer und schaltete den Taxameter wieder ein. Boarhurst - beziehungsweise »The Boar«, der Keiler, wie die Einheimischen es nannten - war, bevor es eingemeindet worden war, ein eigenständiges Städtchen gewesen. Es lag am Südrand des Großraums Boston. Die Fiats befanden sich nördlich und westlich. Eine billige Wohngegend in der Nähe der Kanäle; ein Industrie-und Arbeiterviertel, dem jeglicher Charme fehlte. Tagsüber wurde die Eintönigkeit der trostlosen Fassaden von ausgebleichten Farbspritzern unterbrochen - Wäsche, die man zum Trocknen raushängte, kaputtes und vergessenes Kinderspielzeug, Pflanzen, die um ein bisschen Sonnenlicht kämpften. Nachts war der ganze Bezirk einfarbig. Ich lehnte mich in den Taxisitz zurück und sah zu, wie Schwarz und Weiß zu Grau verschmolzen.
    Die Fahrt führte großteils über die Schnellstraße, und an einem Montagabend um Viertel nach zehn war nicht viel Verkehr. Ich drückte mich in den Sitz und versuchte, nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass Hölle und Verdammnis schon nach meinen Zehen schnappten. Allerdings hatte ich ja nicht versprochen, mich von den Fiats fernzuhalten, oder? Ich hatte nur eingewilligt, Rose nicht zu sagen, was passiert war.
    Mit keinem Wort hatte ich behauptet, ich würde nicht nach ihr sehen.
    »Hier.« Ich beugte mich vor und zeigte auf die nächste Ausfahrt. »Dann links und an der Ampel nach rechts.« Ich dirigierte ihn und das Taxi durch die dunklen Straßen zu der heruntergekommenen Gegend, wo ich so viele Jahre mein Zuhause hatte. »Halten Sie einfach irgendwo hier«, sagte ich mit Blick auf die grauen Dachschindeln unseres unscheinbaren Hauses.
    Vor Jahren war dieses Grau noch hellblau und der Garten übersät mit Blume n gewesen. Aber das war wirklich sehr lange her. Damals, als meine Mutter noch lebte. Heute bestand der Garten hinter dem Maschendrahtzaun nur noch aus Staub. Zwei Recyclingtonnen, die von leeren Whiskeyflaschen und zerdrückten Bierdosen nur so überquollen, standen wie Wachposten links und rechts der Stufen zur Veranda. Ein einsamer Übertopf, braun und zerbröckelnd, blieb der einzige Hinweis, dass die Bewohner einst versucht hatten, diesem öden Garten Leben einzuflößen.
    Ich selbst hatte mich um diese Pflanzen gekümmert - zähe Lilien und graue Rosen. Nicht unbedingt typisch für einen Garten aus Pflanzkübeln, aber auf Schönheitspreise war ich nie aus gewesen. Die Pflanzen waren für meine Schwester und für mich da, damit Rose etwas zum Anschauen hatte, auch wenn ich nicht zu Hause war. Etwas, das uns daran erinnerte, dass wir immer zusammen sein würden, auch wenn ich unterwegs war.
    Dieses beruhigende Gefühl konnte ich ihr nun nicht mehr bieten. Ich hatte wenigstens die Gewissheit, dass ich Lucas Johnson den Garaus gemacht hatte, aber meine Schwester Rose hatte nichts.
    Ich bezahlte den Fahrer, stieg aus und wartete, bis das Taxi davongefahren war. Im Haus war es dunkel, und ich wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Meine Selbstüberschätzung und Entschlossenheit hatten sich verkrümelt, und ich fühlte mich unsicher, ängstlich und ein klein wenig schuldig.
    »Finde dich damit ab, Lil«, sagte ich leise zu mir selbst. Dann holte ich tief Luft, öffnete die Gartentür und marschierte zum Vordereingang. Es war fast elf und in der Nachbarschaft alles ruhig. Es war spät, aber nicht so spät, dass ich einfach wieder hätte gehen können, besonders weil hinter der Milchglasscheibe der Eingangstür Licht und Schatten vom Fernsehgerät zu sehen waren.
    Ich hob die Hand, atmete noch einmal durch und klopfte dann viermal. Die Klingel brauchte ich gar nicht erst zu versuchen, die war schon seit Jahren kaputt.
    Erst hörte ich nichts. Dann ging jemand vor dem Fernseher vorbei und tauchte kurz das Innere des Hauses und die Veranda in Finsternis. Ich zitterte, meine Haut kribbelte. Ich drehte mich zur Straße um, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, ich würde beobachtet. Doch weder sprang etwas aus dem Dunkel, noch lugten unheimliche gelbe Augenpaare aus den Büschen hervor. Wenn hier etwas auf mich lauerte, um mich in die Hölle zu schleppen, war es wenigstens so höflich, mich meinen Besuch beenden zu lassen.
    Immer noch mit den Nerven fertig wandte ich mich wieder zur Tür und hielt sogleich den Atem an, als diese aufgerissen wurde und mir das wettergegerbte

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