Erwachen
liegt, worüber du mit mir reden möchtest. Beispielsweise, dass du in Wirklichkeit gar nicht krank warst. Dass dir am Samstag irgendwas zugestoßen ist.«
Ich schluckte und schüttelte fast unmerklich den Kopf.
Er atmete laut durch die Nase aus. »Wie du willst. Ich lasse die Töchter meiner Schwester nicht im Stich. Wenn du also etwas auf dem Herzen hast …«
Ich zögerte, kämpfte den unerwarteten Drang nieder, diesen Mann als Verbündeten zu gewinnen. Immerhin war er Alice’ Onkel. Wer wäre als Unterstützung geeigneter, mich mit Alice’ Leben vertraut zu machen? Die entsprechenden Worte wollten jedoch ebenso wenig kommen wie das nötige Vertrauen. Ich war nicht Alice; er war nicht mein Onkel. Und den Job, den ich jetzt hatte, musste ich allein erledigen.
Ich zuckte mit den Schultern, versuchte, gelangweilt und unbesorgt dreinzublicken. »Da ist nichts. Ehrlich. Ich war todkrank. So krank, dass das ganze Wochenende wie verschwommen ist. Ich habe kaum was gegessen, nichts als geschlafen, und jetzt bin ich einfach stehend k. o. Ich bin müde, Onkel Egan. Das ist alles.«
»Verlorenes Wochenende, was?«
Ich presste die Lippen zusammen und nickte.
Seine Augen verengten sich. »Ist das zweite Gesicht wieder da?«
»Was?« Ich schluckte und hoffte, er konnte mir den Schock nicht ansehen.
»Seit du ein Kind warst, hast du keine Visionen mehr gehabt. Das war noch, bevor deine Mutter starb. Wenn das jetzt wieder losgeht, musst du mit jemandem darüber reden. Versuch gar nicht erst, allein damit fertigzuwerden.« - »Werde ich nicht«, sagte ich. »Ich meine, würde ich nicht.« Aber mein Verstand raste. Alice musste wieder Visionen bekommen haben. Immerhin hatte Deacon davon gewusst. Doch vor ihrer Familie hatte sie dies geheim gehalten. Wieso? Und: Hatte Alice Deacon davon erzählt? Oder hatte er es selbst erraten? Vielleicht sogar, als Alice in seinem Kopf herumgespukt war?
Nicht eine dieser Fragen konnte ich beantworten, also verlegte ich mich auf die bewährte Taktik. Leugnen. »Ich habe nichts gesehen«, sagte ich und schaute Egan dabei in die Augen. »Ich schwöre. Und wenn, würdest du als Erster davon erfahren.«
Einen Moment lang glaubte ich schon, er würde einen Streit anfangen. Aber dann nickte er nur kurz. »Was gammelst du dann hier rum? Mach zu. Ich will endlich rauf und mich in die Falle hauen.« Er lebte in der Wohnung über dem Pub. »Geh nach Hause. Und komm morgen ja pünktlich!«
»In Ordnung. Du kannst dich drauf verlassen.« Ich eilte zur Tür, wollte nichts lieber als raus hier, selbst wenn ich dann fünf Blocks weit laufen musste, ehe ich zu einem Taxistand kam.
Ich machte mich auf den Weg, warm eingehüllt in den roten Ledermantel, den ich zwischen all den pinkfarbenen Sachen in Alice’ Schrank gefunden hatte. Ich hielt die Augen offen, suchte die schattigen Ecken ab. Jetzt wusste ich, was sich im Dunkeln verbergen konnte.
Die samtene Schwärze schien zu schimmern, während ich so dahinging. Ich stellte mir vor, dass Dutzende gelber Augen mich anlinsten, mich beobachteten, abwarteten. Ich wurde immer schneller, die Stiefel klackerten auf dem Bürgersteig. Vor meinem geistigen Auge sah ich Kobolde, die sich im Dunst zusammenrotteten, aus den Abwasserkanälen krochen, auf den Rücken von Geiern auf mich niederstießen. Sie kamen meinetwegen, und ich war nicht bereit. Gott schütze mich, ich war nicht bereit.
Weiter vorn bog ein Taxi in die Straße ein. Ich sprang auf die
Fahrbahn und hob einen Arm. So blieb ich stehen, damit der Fahrer mich auch bestimmt sah. Ich fühlte mich nackt und wie auf dem Präsentierteller, während die Schergen des Teufels mich aus den Schatten heraus beobachteten.
Gott sei Dank hielt das Taxi neben mir. Ich stieg ein und umhüllte mich mit der Illusion von Sicherheit.
Denn in Wahrheit würde ich mich nie wieder sicher fühlen können
9
Das Taxi hielt vor Alice’ Wohnung, aber ich stieg nicht aus. Das hier war ein neues Leben. Ein neuer Name, neue Freunde und neue Vorschriften, die ich einhalten sollte.
In Wahrheit war genau das noch nie meine große Stärke gewesen.
»Miss?«
»Entschuldigung«, sagte ich und rutschte von der Tür wieder zurück in die Mitte der Rückbank. »Ich muss … äh, können Sie mich in die Fiats fahren?«
Stirnrunzelnd drehte er sich um. Ein alter Mann mit einer Hautfarbe wie Kamillentee.
»Ich habe genug Geld«, versicherte ich, dann rasselte ich eine Adresse herunter. »Da wohne ich«, fügte ich hinzu,
Weitere Kostenlose Bücher