Erwachen
getroffen.
Clarence schnaubte. »Deine überkommenen Erwartungen musst du schnell über Bord werfen, Lily. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen, Kleine.«
»So wie du?«, fauche ich. Ich wollte ihm wehtun. Denn so unerklärlich es auch sein mochte, seine Neuigkeiten über Deacon hatten mich tief getroffen. Ich hatte mich wie eine Idiotin benommen und mich in eine Gefühlsfalle locken lassen. Für diese Schwäche verachtete ich mich.
: »Ich?«, fragte er. Mein inneres Tohuwabohu war ihm Gott und Schoolhouse Rock sei Dank offenbar entgangen. »Bei mir stimmen Schein und Sein perfekt überein.«
»So? Versteh mich bitte nicht falsch, aber du entsprichst nicht unbedingt meiner Vorstellung von einem Himmelsboten.«
»Wie sähe die denn aus?«
»Keine Ahnung. Gute Manieren schon mal. Eher väterlicher Typ. Sanfter irgendwie. Und ein Hauch von Heiligkeit würde auch nicht schaden.«
Belustigt verzog er den Mund. »Ist dir noch nicht in den Sinn gekommen, ich könnte deinetwegen hier sein?«
»Was soll das heißen?«
»Ich bitte dich! Du würdest doch den Heiligenschein jedes Engels innerhalb von zehn Minuten einschwärzen. Würdest du wirklich auf einen Priester hören? Würdest du ihnen Fragen stellen und sie piesacken, bis du wirklich kapierst, was hier vor sich geht? Nein, Kindchen. Ich bin hier, weil der oberste Boss glaubt, ich wäre der Einzige, auf den hörst.«
Bestürzt runzelte ich die Stirn. Denn die Wahrheit war: Er hatte recht. Clarence reizte mich ohne Ende, aber auf eine vertraute, tröstliche Art. Vergleichbar dem Umgang mit Jeremy und Konsorten.
»Wie ich schon sagte: Du musst hinter die Fassade blicken. Streng dich an!«
Widerwillig musste ich ihm zustimmen. Meine Gedanken wanderten zurück zur Bar, wie nahtlos ich in Alice’ Leben geschlüpft war, nur dass es eben keineswegs so nahtlos gewesen war. Ich war in meine Pflichten hineingestolpert. Ich hatte Leon dank gewisser Erste-Hilfe-Kenntnisse versorgt, die Alice höchstwahrscheinlich nicht hatte. Und niemand hatte etwas bemerkt.
»Da bin ich aber nicht die Einzige, oder? Ich meine, heutzutage blickt doch keiner mehr hinter die Fassade, stimmt’s?«
Er antwortete nicht. Sein Schweigen fasste ich als Einladung auf fortzufahren.
»Ich bin einfach in ihr Leben spaziert. Niemand hat überhaupt bemerkt, dass sie gestorben ist! Kein Mensch hat um sie getrauert, ihr das letzte Geleit gegeben. Sie haben einfach die nächste
Runde bestellt und weiter auf ihren Arsch geglotzt. Und nicht einer hatte auch nur den Schimmer einer Ahnung.« Ich presste die Zähne aufeinander und zwinkerte die Tränen für diese Frau weg, die ich kaum kannte. Eine Frau, die die Leute kaum kannten, mit denen sie jeden Tag ihres Lebens verbracht hatte. K »Du verstehst also.«
Ich nickte. So traurig das auch war.
Mir fiel ein, wie zerknautscht Leon auf dem Boden gelegen hatte, und ich dachte an den Mann, der ihn dahin befördert hatte. Ich runzelte die Stirn. Trotz dieses Gewaltausbruchs hatte nichts darauf hingedeutet, dass Deacon mehr als ein normaler Mensch sein könnte. Bestimmt kein Dämon. Bestimmt nicht die Verkörperung des Bösen.
Als er in dieser Gasse mit mir gesprochen hatte, lag in seiner Stimme echte Sorge, und er hatte mir gegen den Giykon geholfen. Nur weil ich in seinen Verstand hatte sehen können, glaubte ich Clarence. Ich glaubte ihm wirklich.
»Warum?«, fragte ich ihn. »Warum sollte er mir helfen?«
»Ich bitte dich, Lily! Du bist doch nicht blöd. Weshalb glaubst du wohl?«
»Er hat mich für dumm verkauft«, sagte ich und ballte die Hände zu Fäusten. Ich wusste nicht so recht, ob ich Deacon am liebsten ein Messer ins Herz stoßen oder ihn einfach nur nie wieder sehen wollte. »Dieser Drecksack …«
»Genau so gehen sie vor, Kindchen. Sei nicht zu streng mit dir.«
»Bist du nicht sauer? Wirst du nicht … du weißt schon.« Ich warf einen Blick auf seine Taille, wo er unter dem Mantel das Messer in der Scheide stecken hatte.
»Nicht, wenn du aufrichtig zu mir bist. Er weiß nicht, wer du bist? Was du bist?«
»Nein. Ich schwöre es. Aber …« Deacons Bemerkung, ich solle seinen Kopf in Ruhe lassen, kam mir in den Sinn, ehe ich es noch verhindern konnte. Ich sah, wie Clarence das Gesicht zusammenkniff; sein Ausdruck wechselte von Wut über Angst zurück zur anfänglichen Mischung aus Langeweile und nichts - sehr ähnlich der von mir einstudierten Miene. Und einen kurzen, eigenartigen Moment lang fragte ich mich, was erwohl
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