Erwachen
zu verbergen hatte.
»Was genau hat er gesagt?«, fragte Clarence. Seine starre Maske war wieder von ihm gewichen. Er war wieder ganz der Alte.
»Nur, dass ich aus seinem Kopf wegbleiben soll«, antwortete ich und stimmte innerlich ein Lied in voller Lautstärke an, nur um auf der sicheren Seite zu sein.
»Was hat er damit gemeint?«
»Keine Ahnung. Ich habe mir irgendwie gedacht, dass Alice vielleicht wie du war.«
Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »Wie sollte er denn auf die Idee kommen? Bist du etwa jemandem in den Kopf gekrochen, Kleine?«
»Er dachte, Alice sei wie du. Ich bin ja nicht sie, oder hast du das vergessen?« Ich sprach vor dem geistigen Hintergrund von Conjunction Junction, einem Lied aus Schoolliouse Rock. Und ich sprach mit fester Stimme, so wie ich zu lügen gelernt hatte.
Ich sprach aber auch vor einem Hintergrund aus Schuldgefühlen, weil ich die Wahrheit schon wieder verdreht hatte. Was alles nur noch schlimmer machte; schließlich log ich quasi Gottes rechter Hand die Hucke voll. Aber ich konnte nicht anders. Seit noch nicht einmal einem ganzen Tag steckte ich in diesem neuen, irren Leben, und ich wollte unbedingt am selbigen bleiben. Ich wollte eine Superbraut sein. Ich wollte die Dämonen bekämpfen. Ich wollte die Chance bekommen, mein Karmakonto auszugleichen.
Und etwas in Clarence’ Augen sagte mir, wenn ich ihm die Wahrheit erzählen würde, was in meinem Kopf ablief, dann wären alle Abkommen null und nichtig.
Diesen Gedanken drängte ich weiter hinter den Schleier aus Kinderliedern zurück. Clarence sah mich nachdenklich an. Meine Hoffnung wuchs, dass er nicht in meinen Verstand spähen konnte.
»Glaubst du, er hat dich verscheißert?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Möglich. Wir wissen, dass er mich aufziehen wollte. Aber es spielt keine Rolle, weil Alice tot ist. Und in meinem Kopf spielt sich nichts Abgefahrenes ab.«
»Dann bist du aus dem Schneider, Kindchen. Aber falls irgendetwas auftauchen sollte, lässt du es mich wissen, ja? Unfassbar, dass wir diese Seite von Alice nicht kannten! Aber wenn sie wirklich Dämonen im Kopf rumgestochert hat, wäre das verdammt praktisch gewesen.« H »Kannst du das etwa nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Zum einen stehe ich nicht an vorderster Front. Und zum anderen: Ich kann nur menschliche Gedanken lesen. Meine Fähigkeiten sind begrenzt.«
»Ach.« Das war ja mal interessant. Ein schickes kleines Fitzelchen Information, das ich für schlechte Zeiten aufbewahren würde.
Ich dachte über meine Mission und Deacons Rolle nach. »Also, äh, dann soll ich ihn umbringen?« ; »Deacon?« Wieder schüttelte er den Kopf. »Nein.«
Nur mit großer Mühe erstickte ich einen Seufzer der Erleichterung. »Wieso nicht? Er ist ein Dämon. Ich töte Dämonen.«
»Ist er und tust du. Aber mit ihm ist nicht gut Kirschen essen. Er ist stark, Lily, sehr stark. Und ehe du dir nicht noch ein paar Fähigkeiten antrainiert hast, kann man sicherlich problemlos behaupten, er ist dir bei Weitem überlegen. Er hat schon zu viele von uns ausgeschaltet, als dass ich dich so locker auf ihn ansetzen würde. Das Endspiel ist zu wichtig, um unsere Kräfte zu riskieren, indem wir sie Abschaum wie Deacon Camphire auf den Hals hetzen. Hast du verstanden?«
Ich nickte als Zeichen, dass ich sehr wohl verstand, und überschwemmte meinen Kopf mit Kinderliedern, damit er nicht sehen konnte, wie erleichtert ich war.
In Wahrheit hatte mich die Enthüllung über Deacon verblüfft. Dass er ein Dämon war, glaubte ich. Dass eine böse Seite in ihm steckte, glaubte ich. Und vielleicht war ich ja naiv, aber ich wollte einfach nicht glauben, dass das schon alles war. Ich hatte gesehen, welchen Kampf er mit sich führte, den Kampf für das Gute. Mehr noch: Ich wusste, dass Alice zu ihm gegangen war. Ihm vertraut hatte. Geglaubt hatte, dass er ihr helfen konnte - und würde.
Vielleicht hatte er Alice auch für dumm verkauft. Vielleicht hatte er sich künstlich Bilder ins Gehirn gepflanzt, um mir vorzugaukeln, er kämpfe gegen das Böse, während er in Wirklichkeit dessen Inbegriff war.
Vielleicht war Alice deshalb nicht aufgetaucht.
Vielleicht hatte sie herausgefunden, dass er sie für dumm verkauft hatte. Ich wusste es nicht.
Aber ich konnte ihn nicht so einfach abschreiben, wie Clarence das getan hatte.
Ich musste nachhaken, herumbohren, lernen, weitersehen.
Ich musste wissen, wie Deacon Camphire tickte.
12
Man hat erst dann richtig gelebt,
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