Erwachen
Neonlampen zum Leben, und weiter hinten fing ein Ventilator an zu summen, die Luft durchzuwirbeln und ein paar meiner Ängste wegzuwehen. Graffiti zierte die Wände des schmalen Gangs, aber der Schmutz und der Gestank der Gasse blieben draußen.
Wir gingen weiter, unsere Schritte hallten vom Beton der Wände und des Bodens wider. Bald wurde der Neonschein vom gedämpften Licht gelber Glühbirnen abgelöst, die in regelmäßigen Abständen angebracht waren. Und wir liefen immer weiter durch diese gelbstichigen Lichtflecke, bogen um eine Ecke, dann um die nächste Ecke, drangen immer tiefer in dieses Labyrinth vor.
Schließlich kamen wir zu einem alten Aufzug. Ich beugte mich vor und umklammerte das Drahtgitter, während ich in den Schacht hinabsah, der offenbar in völliger Dunkelheit endete. Das Kabel, das vor unseren Augen herumbaumelte, schien kaum dazu geeignet, seine Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen.
»Hast du was von Hightech gesagt?«
Clarence zuckte mit den Schultern und blies durch die Lippen. »Ah. Wird renoviert. Aber wer hat für so etwas schon Zeit.«
Ich war versucht, ihn darauf hinzuweisen, dass Gott die nötige Zeit hätte. Dies war allerdings nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze.
»Gute Entscheidung.«
»Jetzt hör endlich damit auf!«
»Dann hör du auf, so laut zu denken.«
Ich runzelte die Stirn, aber er lachte bloß leise und zeigte dann auf ein weiteres Gerät, das hinter einer Stahlplatte versteckt war. »Du bist dran«, sagte er.
Ich beruhigte meine flatternden Nerven und drückte eine Hand auf das kühle Glas. Ein biometrischer Scanner trat in Aktion. Ich hörte ein kurzes Surren und Klicken, dann setzte sich die winzige Metallkabine in Bewegung, fuhr aus der Tiefe hoch und blieb schließlich vor uns stehen. Clarence ergriff die Initiative, zog das Gitter auf und holte mit dem Arm weit aus. »Bitte nach Ihnen.«
Ich sog tief Luft ein, blickte zu dem windigen Kabel und ging rein.
Immerhin stand Gott auf meiner Seite, oder? Zumindest derzeit.
Gesteuert wurde der Aufzug durch einen alten Mechanismus. Clarence drehte den Zeiger abwärts, von 1 auf B3. Der Kasten ruckelte, und unser Abstieg begann. Die Welt - beziehungsweise das Gebäude - rauschte an uns vorbei wie ein Daumenkino.
Trotz der hochtechnologischen Einstiegsprozedur hatte der Bau nichts Aufsehenerregendes an sich. Die Etagen, an denen
wir vorbeikamen, waren leer, aber sauber, der Schutt am Eingang diente im Wesentlichen zur Tarnung. Aber es waren keine bemalten Fenster oder Statuen zu sehen. Das Ganze wirkte wie ein Bunker. Ich schlang die Arme fest um mich und fühlte mich mit jedem Zentimeter, den wir tiefer in das Gebäude fuhren, mehr fehl am Platz.
Obwohl mir das alles wie eine Beise ohne Ende vorkam, hielt der Aufzug schließlich quietschend. Ich musste Clarence gar nicht erst fragen, ob wir an unserem Ziel angekommen waren. Das war offensichtlich. Ein erhöhtes Podium stand wie ein Boxring genau in der Mitte eines gewaltigen Baums. Darum herum befanden sich allerlei Trainingsgeräte: Boxsack, Heimtrainer, Trainingsbank. Wären nicht Morgenstern, Breitschwert und andere mittelalterlich anmutende Waffen hinter dem Bing an der Wand zu sehen gewesen, hätte mich der Baum an das billige Fitnessstudio erinnert, in das Joe immer ging, bevor meine Mutter starb.
Der Geruch erinnerte mich an meine Kindheit, an den Mief von abgestandenem Schweiß und Leder. Eine R iesenwelle des Bedauerns zerrte an meinem Herzen. Ich musste die Augen fest zusammenpressen, um eine Sehnsucht zurückzudrängen, die so stark war, dass meine Knie nachzugeben drohten.
Ich atmete durch und zwang mich dazu, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Mein altes Leben war vorbei. Und wenn ich meine neue Existenz in den Griff kriegen wollte, und mochte sie auch noch so heikel sein, so musste ich mich auf das Wesentliche konzentrieren. Ich musste kämpfen - sowohl gegen mich als auch gegen die Dämonen, die das Leben auf Erden zur Hölle machen wollten.
»Schlappmachen gilt nicht, was?«, sagte ich zu Clarence und nickte kurz zur Einrichtung hinüber.
Mit undurchdringlicher Miene hatte er mich beobachtet. Hat-
te er meine Erinnerungen gesehen, meinen Verlust gespürt? Ich fragte nicht, und nach einem kurzen Moment kniff er die Augen leicht zusammen. »Bist du müde?«
Ich überlegte und kam zu dem Schluss, dass ich nicht müde war. Ganz und gar nicht.
»Hätte mich auch gewundert«, nickte er wissend. »Kann sein, dass du hin und
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