Erwachen
ich. »Soll das heißen, du kannst hier nicht weg? Du darfst nicht nach oben?«
»Darf ich schon, aber dann ist der Deal hinfällig.« Er wartete, dass ich etwas entgegnete, aber mir fiel nichts ein. »Kennst du die wahre Hölle, Lily?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Hin und wieder bin ich versucht, mit dem Aufzug nach oben in die Stadt zu fahren.«
»Aber dann würdest du die Vereinbarung brechen und unsterblich bleiben.«
Er atmete hörbar aus. »Nach so langer Zeit fürchte ich den Tod ebenso sehr, wie ich ihn mir wünsche. Ein abscheuliches Dilemma!«, lächelte er.
Ich stellte mir vor, wie er hier gefangen war, und ich erkannte, dass Zane meinen Albtraum bereits durchlebte - nur in größerem Maßstab.
»Wie lange musst du denn hier noch ausharren?«
»Das hängt von dir ab, Lily. Das Schicksal der Welt wird sich bald entscheiden, und damit auch mein Schicksal. Die Konvergenz«, sagte er mit einem Anflug von Furcht in den Augen, »rückt von Tag zu Tag näher, ob uns das nun passt oder nicht.«
»Zane, es tut mir …«
»Nein! Von allen Menschen solltest du mich am wenigsten bedauern. Wir sind aufeinander angewiesen, Lily. Uns verbindet das gleiche Schicksal.«
Beunruhigt runzelte ich die Stirn.
»Aber genug jetzt von Theologie und Ewigkeit. Du bist heute Abend hergekommen, weil du befürchtet hattest, ich hätte mich gegen dich gewandt. Aber glaub mir, mafleur, ich wünsche dir kein Leid.« Sein Blick streifte mich, da ich es vermied, ihm direkt in die Augen zu schauen. Ich hatte Angst, was ich darin erkennen könnte, wenn ich Alice’ zweitem Gesicht freien Laufließe. Außerdem sollte er nicht erfahren, dass ich diese seherische Fähigkeit hatte. »Nein, cherie, nie im Leben würde ich dir ein Leid wünschen!«
Grob drückte er seine Lippen auf meine und ließ mich atemlos und begierig auf mehr zurück.
Begierig, ja, aber nicht willig. Sanft drückte ich ihn von mir, ebenso wie meinen inneren Schmerz, der mich um Linderung anbettelte.
»Nein.«
Prüfend sah er mich an, und ich wandte den Blick ab, ehe mein Wille schwanken konnte. Er machte mich an, das schon. Er hatte meine Sinne entflammt.
Aber letztlich war es ein anderer Mann, der meine Gedanken beherrschte. Ein gefährlicher Mann, den ich trotz besseren Wissens in mein Bett locken wollte.
Er trat zurück, vergrößerte die Entfernung zwischen uns. »Du brichst mir das Herz, cherie.«
»Ein anderes Mal vielleicht«, sagte ich. »Wenn die Dinge sich geändert haben.«
»Ist das ein Versprechen, cherie?«
Ich dachte an mein Versprechen, Rose immer zu beschützen, und schüttelte den Kopf. »Ich gebe keine Versprechen mehr.« Ich drehte mich um. Es war höchste Zeit, nach Hause zu gehen
31
Als ich ein paar Minuten vor eins zu Hause eintraf, war ich nicht im Geringsten überrascht, dass Clarence wieder auf seinem kleinen Stuhl vor meiner Wohnungstür saß. Was mich hingegen schon überraschte, war das Geschenk, das er mir in die Hand drückte, eine kleine, in violettes Papier eingewickelte Schachtel. Verwirrt nahm ich sie.
»Nur eine Kleinigkeit«, sagte er.
Ich runzelte die Stirn, wickelte das Papier ab und hob den Deckel hoch. Auf zerknülltem Packpapier gebettet lag ein Handy. Pink. Mit Sprenkeln. Ich starrte Clarence an. »Das wäre vorhin praktisch gewesen - oder auch nicht. Da ich ja meine Scheißfinger nicht mehr bewegen konnte.«
»Firmenpolitik«, sagte er. »Unbegrenztes Telefonieren innerhalb des Netzwerks, unbegrenztes Simsen, unbegrenzte E-Mails. Technologie ist doch was Schönes.«
Ich musste beinahe lächeln, als ich den Schlüssel ins Türschloss steckte und uns beide in die Wohnung ließ. »Ein netter Gedanke, gefällt mir. Ob es mir heute was gebracht hätte, weiß ich nicht - wahrscheinlich hätte ich es beim Kampf verloren … Es ist nämlich so: Ich habe versagt.« Ich schaute ihn an und erwartete eigentlich ein paar aufmunternde Worte. Aber nichts. »Na schön.« Plötzlich fühlte ich mich unwohl. »Egal.«
»Keine Bange!« Er klopfte auf die Tasche mit dem Messer. »Deswegen bin ich nicht hier.«
»Schön für mich.«
»Aber mit Allgemeinplätzen werde ich dich auch nicht lang-
weilen. Kleine. Dein Versagen kostet uns vielleicht nicht den Sieg, aber es steht nur noch eine Schlacht aus, die alles entscheidende. Und jetzt hängt alles von dir ab.«
»Hauptsache, kein Druck«, murmelte ich.
»Hey!«, rief er überschwänglich. »Du kannst es schaffen, oder? Sonst wäre ich gar nicht hier. Du brauchst
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