Erwacht
fühlen, empfinden, riechen – war einfach zu viel. Letztendlich verloren die Verbannten ihre Fähigkeit, Gleichgewicht und Empfindungsvermögen aufrechtzuerhalten, und je länger sie Menschen waren, desto mehr verfielen sie.
»Menschlich zu sein wirkt also wie eine Art Krankheit?«, fragte ich.
»So könnte man es betrachten, als eine Geisteskrankheit«, sagte Griffin.
»Aber ich verstehe nicht, warum die Guten, ich meine … Engel des Lichts«, verbesserte ich mich, weil ich versuchen wollte, im Fachjargon zu bleiben, »sich überhaupt dafür entscheiden, die Verbannung zu wählen.«
Er lächelte, als hätte sich meine Frage gerade von selbst beantwortet, was mich nervte. »Das liegt daran, dass du glaubst, Engel des Lichts seien ausschließlich gut – so wurde es dir beigebracht. Aber kein Wesen ist ohne Fehler. Engel haben die Freiheit, ihre eigene Wahl, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, genau wie Menschen. Das nennt man freien Willen«, sagte er schlicht.
»Also sind alle Verbannten böse?«
»Grundsätzlich ja. Sie haben unterschiedliche Herangehensweisen – wenn Verbannte des Lichts einen menschlichen Körper erhalten, ist es so, als würde man einem Sektenführer mit irrsinniger Mission freie Hand und Straffreiheit zusagen. Bei Verbannten der Finsternis ist es eher so, als würde man einen Serienmörder übers Wochenende aus dem Gefängnis entlassen und ihm eine Knarre mitgeben.«
Ich schauderte. Griffin betrachtete mich eingehend. Es kam mir vor, als würde er mich einzuschätzen versuchen.
»Um es ganz deutlich zu sagen, Violet – Engel gehören nicht auf die Erde, ganz egal, welche Rolle sie früher gespielt haben. Es gibt seltene Ausnahmen, Verbannte, die versuchen, ruhig mit den Menschen zusammenzuleben. Aber die meisten verbannten Engel sind verdorben, gefährlich und tödlich. Ihre ausschweifenden Kämpfe, kombiniert mit ihrem Drang, sich selbst über die Menschen zu stellen, machen sie zu der Art von Raubtieren, die sich die meisten Menschen nicht mal im Entferntesten vorstellen können.«
»Sie bekämpfen sich gegenseitig?« Es war surreal, als ich mich selbst diese Fragen stellen hörte. Engel, andere Reiche, Gut und Böse … Ich war versucht, mich zu kneifen, nachzuprüfen, ob ich träumte, obwohl ich wusste, dass das nicht der Fall war.
»Seit Anbeginn der Zeit sind Licht und Finsternis Gegensätze. Im Engelreich unterliegen sie Gesetzen – in unserer Welt gibt es solche Einschränkungen nicht. Die seit Ewigkeiten währende Rivalität zwischen den beiden Kräften erhalten auf der Erde die perfekte Arena. Die visuellen Effekte beim Abschlachten von Fleisch sind weit … befriedigender als geistige Auseinandersetzung.«
Griffin starrte mich mit ernster Miene an. »Es gibt nur drei Dinge, die Verbannte des Lichts und Verbannte der Finsternis gemeinsam haben. Sie verachten sich gegenseitig, sie hassen die Grigori und es ist ihnen vollkommen gleichgültig, welche Opfer ihre brutalen Kriege fordern.«
Großartige Neuigkeiten. Offenbar war ich nicht nur irgendeine komische Engel-Mensch-Kombi, sondern hatte auch gleich noch einen echt miesen, unsterblichen Feind.
KAPITEL NEUN
»Unsere Pflicht ist es, nützlich zu sein. Nicht entsprechend unseren Wünschen, sondern entsprechend unseren Fähigkeiten.«
HENRI-FRÉDÉRIC AMIEL
W ir saßen schweigend da. Lincoln schaute überallhin, nur nicht in meine Richtung. Griffin schien zu warten – wahrscheinlich, um mir Gelegenheit zu geben, das alles zu verarbeiten. Als würde das funktionieren. Ich ertappte mich dabei, wie ich meine Wand anstarrte, die Wand, von der ich gedacht hatte, dass es mir so viel Spaß machen würde, sie anzumalen.
»Okay«, seufzte ich. Ich wusste, dass an diesem Gespräch kein Weg vorbeiführte. »Also, was sind Grigori?«
Griffin sprang sofort darauf an. Er war jetzt schon so gut auf seine Rolle als Dozent eingespielt. »Als die Engel erstmals menschliche Form annahmen und Chaos und Verwüstung auf der Erde anrichteten, traf das regierende Gremium – die Seraphim – eine Vereinbarung. Sie dachten sich den Plan aus, sogenannte Grigori auf die Erde zu schicken. Ursprünglich hatten Engel diese Position eingenommen. Dieselben Schwächen, die die Verbannten hatten, schwächten jedoch auch die Engel, die ihnen auf die Erde folgten, und sie scheiterten. Darum fanden die Seraphim eine andere Lösung.«
»Menschen«, sagte ich.
Griffin nickte. »Wenn ein Kind innerhalb der ersten zwölf Tage seines Lebens
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