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Erwacht

Erwacht

Titel: Erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Shirvington
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zurück. Ich hatte mich noch immer nicht zu ihm umgedreht. Wie konnte ich ihn je wieder anschauen, wenn ich wusste, dass alles eine Lüge war? Von Sekunde zu Sekunde wurde mir klarer, vollkommen klar, dass er mich, seit er mich kannte, belog.
    »Man nennt uns Grigori. Wir sind halb Engel, halb Mensch. Das passiert oft kurz nach unserer Geburt, aber wir sind erst erwachsen, wenn wir siebzehn sind. So wie du jetzt erwachsen geworden bist.«
    Ich wirbelte herum und schaute ihn an, in dem verzweifelten Versuch, mir selbst zu beweisen, dass das alles nur ein makabrer Witz war. Regen tropfte von seinen Haarspitzen und sammelte sich auf seiner Oberlippe. Er sah toll aus, was alles nur noch schlimmer machte.
    »Du bist doch krank!«, schrie ich mit zitternder Stimme. Oh, mein Gott, hatte er Wahnvorstellungen? Hatte ich was verpasst? Normalerweise hatte ich einen guten Radar für Psychos.
    »Ich würde dich, was das angeht, nie anlügen«, sagte er mit flehendem Blick.
    »Nicht? Dann eben im Bezug auf alles andere!« Ich spie ihm die Worte regelrecht entgegen, Wasser sprühte von meinen Lippen, als ich es sagte. Ich schaute mich nach einem Fluchtweg um, nach Rettung. Die Straßen waren verlassen; keiner war so dumm, sich jetzt draußen aufzuhalten. »Woher weißt du überhaupt, dass ich einer dieser ›Grig‹ oder wie das heißt bin?«
    »Grigori. Es geschah, als du geboren wurdest und deine Mutter starb. Wenn ein Elternteil innerhalb von zwölf Tagen nach der Geburt seines Kindes stirbt, entsteht dadurch, dass ein neues Leben mit einem neuen Tod zusammenfällt, eine Pforte für einen Engel. Durch diese Pforte kann er einen Teil seiner selbst weitergeben.«
    »Das erklärt nicht, weshalb du es in meinem Fall weißt!«
    Er wandte sich zu Griffin um, als würde er ihn um Hilfe ersuchen. Griffin bewegte sich nicht aus dem Schutz des Türrahmens. Lincoln drehte sich mit ausgebreiteten Armen wieder zu mir um. »Ich weiß es, weil ein Engel es mir gesagt hat. Ich weiß es, weil wir alle einen Partner haben, der für uns bestimmt ist, jemand der bereits ein Grigori ist … oder bald einer sein wird. Ich weiß es, weil … weil du meine Partnerin bist, Violet.«
    Er ließ den Kopf hängen und ich wusste, dass das schlecht war. Schlecht, schlecht, schlecht. Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Bitte … komm mit rein. Wir werden dir alles erklären.«
    Ich wollte weglaufen, schreien, weinen, irgendetwas tun, egal was, aber ich musste es wissen. Mein Gehirn ermahnte mich, es beim Namen zu nennen, mir einzugestehen, was es war – Bullshit . Ich meine, solche Dinge geschehen einfach nicht, jedenfalls nicht im echten Leben, und soweit ich unterrichtet war, befand ich mich auch nicht in irgendeinem verkorksten Science-Fiction-Film. Das Problem war: Mein Gehirn schrie nach etwas, während mich ein anderer Teil zurückhalten, mich abrupt zum Stillstand bringen wollte. Dieser Teil befand sich irgendwo in meinem Bauch, dem Ort, dem ich gelernt hatte zu vertrauen, dem Ort, an dem ich schon immer Instinkt und Intuition angesiedelt hatte. Und dann war da noch der Brief von meiner Mutter, ihre Worte ließen mich nicht mehr los – Es gibt Mächte auf dieser Welt … Konnte das wirklich wahr sein?
    Ich schob Lincolns Hand von meiner Schulter und ging an ihm vorbei. Zum ersten Mal wollte ich ihn nicht berühren oder ihm in die Augen schauen.
    Griffin stand in der Tür und wartete. Ich hielt vor ihm an und warf ihm einen tödlichen Blick zu. »Bin ich, was er behauptet?«
    Griffin schaute mich an und begegnete meinem festen Blick gelassen. »Wir alle sind, was er behauptet.«
    Ich weiß nicht, wie oder warum, aber als ich ihm in die Augen schaute, wusste ich plötzlich, dass es stimmte. Es war, als wäre er in die tiefsten Schichten meiner Schutzmechanismen eingedrungen und hätte dort eine Wahrheit ausgegraben, die tief in mir geschlummert hatte. Zuerst fühlte es sich an, als würde sich etwas Giftiges durch mich hindurchschlängeln, aber dann merkte ich, dass es der Rest von mir war, der sich giftig anfühlte – und dass dieser kleine, verborgene Teil reiner war als alles andere.
    Das war nicht irgendein übler Witz. Keine versteckten Kameras, keine Zwangsjacken. Es war, als würde sich meine Welt, wie ich sie kannte, verschieben, sich verändern. Sie entfernte sich von mir.
     
    I n der Lagerhalle gab Lincoln mir Handtücher, was ich ignorierte. Stattdessen setzte ich mich in seinen Lieblingssessel und durchweichte ihn. Er sagte nichts

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