Erwacht
mich rechts an der Steilwand hinaufzuarbeiten. Dort schien es den besten Halt zu geben, zumindest soweit man sehen konnte. Natürlich gab es auch einen Haken. Das obere Drittel sah wie vertikaler Selbstmord aus. Ich wusste, dass es eine harte Partie werden würde, aber die anderen Routen sahen noch weniger machbar aus; tiefe Spalten durchzogen dort den mittleren Bereich. Ohne Kletterpartner und ohne Seile waren sie nicht zu bewältigen.
Ich zog meinen Pulli aus und stopfte das Handy in die Hose. Nachdem ich einiges mit der Wasserflasche ausprobiert hatte, gab ich auf. Ich trank, so viel ich konnte, und ließ die Flasche zusammen mit meinem Pulli am Fuß des Felsens zurück.
Das erste Drittel der Kletterpartie war relativ unkompliziert und ich legte ein gleichmäßiges Tempo vor. Aber es war nicht zu vermeiden, dass ich, nachdem ich schon den Berg hinaufgestiegen war, bald müde wurde. Ich versuchte, kleine Pausen einzulegen, aber in der Luft zu baumeln fühlte sich bald eher hinderlich als hilfreich an.
Ungefähr nach der Hälfte änderte sich der Winkel der Felsoberfläche und bekam eine schwierigere Steigung. Einen Halt für Füße und Hände zu finden, wurde schwerer, und ein paar Mal rutschte ich ab, aber ich schaffte es, auf Kurs zu bleiben. Am Fuß der vertikalen Wand, die zum Gipfel führte, befand sich ein schmaler Absatz, auf dem ich stehen konnte. Ich nutzte die Gelegenheit für eine kurze Pause und fischte mein Handy aus der Tasche, um auf die Uhr zu schauen. Noch etwa zwanzig Minuten bis Sonnenaufgang. Meine Hände waren so verschwitzt, dass sich ein glitschiger Film über meine Finger gelegt hatte. So gut es ging, wischte ich beide Hände gründlich an meiner Hose trocken, während ich auf dem winzigen Absatz balancierte. Die Zeit rannte mir davon, ganz zu schweigen davon, dass, wenn ich an dieser Stelle stürzen würde … Sagen wir einfach, ich wäre nicht allzu schnell wieder fit für einen zweiten Anlauf.
Sorgfältig überprüfte ich den nächsten Abschnitt und pickte so viele Griffe und Tritte wie möglich heraus, um meine Route vorzuzeichnen. »Komm schon, Vi. Du schaffst das. Mit Leichtigkeit.« Ich sog championmäßig die Luft ein und machte mich auf den Weg.
Vielleicht gelang es mir für kurze Zeit, meinen Verstand an der Nase herumzuführen, aber mein Körper wollte nichts davon wissen. Meine Arme zitterten erschöpft vor Überanstrengung, und wenn sie mein ganzes Gewicht halten mussten, musste ich bestimmt nicht lange warten, bis sie unter mir nachgaben. Eine Welle der Übelkeit überkam mich, während meine Muskeln vor Milchsäure brannten und sich verkrampften. Schon bald bildete sich in meinem Mund Speichel, der nach verdünntem, metallischem Blut schmeckte.
Als meine rechte Hand schließlich nach der Oberkante der Felswand griff und sich abmühte, dort Halt zu finden, musste ich wie wild herumtasten und versuchte verzweifelt, diesen körperlichen Qualen ein Ende zu bereiten. Meine Hände arbeiteten in der Eile ruckartig und meine Fingernägel bogen sich und brachen ab, während ich über die Oberseite des Felsens kratzte, bis ich einen guten Halt gefunden hatte. Mein Fuß fügte sich hübsch in einen vorher als Griff für die Hand benützten Vorsprung ein und ich zog mich hoch, bis ich meinen Körper über die Felskante schieben konnte. Als ich mit den Knien oben war, kroch ich hektisch in eine sichere Zone, weg von der Kante.
Ich schaffte es gerade noch, auf alle viere zu kommen, dann musste ich mich übergeben.
Ich lag auf der kühlen, harten Oberfläche und konzentrierte mich darauf, was im Moment am wichtigsten war – mich daran zu erinnern, wie man atmete. Obwohl jeder einzelne Muskel in meinem Körper aufschrie, schaffte ich es, aufzustehen und zum anderen Ende des Felsens zu gehen. Seltsamerweise war ich nicht einmal schockiert, als ich den tödlichen Abgrund sah, der sich vor mir auftat. Von hier oben gesehen war die Schlucht so tief, wie der Berg hoch war, und doch vielleicht noch ein bisschen mehr. Der Sprung war sicherer Selbstmord. Das würde nicht besser werden, und so wie es aussah, gab es für mich nur den Weg nach unten. Ein Geräusch kam über meine Lippen. Ich war mir nicht sicher, ob es ein Lachen oder ein Weinen war.
Mein Handy hatte keinen Empfang mehr, aber das Display leuchtete noch und zeigte an, dass es noch drei Minuten bis Sonnenaufgang waren. Der Himmel glühte in Verheißung des Tagesanbruchs und die Vögel überall im Wald unter mir begannen ihre
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