Erwacht
Morgenlieder. Ich schaute über das umliegende Waldgebiet. Es war wunderschön. Ich wartete einen Augenblick, sog alles in mich auf, bevor ich mir erlaubte, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Egal wie malerisch es aussah, egal welche Art von Frieden ich daraus zog, nichts änderte die Tatsache, dass ich kurz davor stand, vom verdammt höchsten Felsen zu springen, auf dem ich je gestanden hatte. Nein, ich war mutterseelenallein und ich war geliefert und … das wusste ich.
Da ich nur noch wenige Sekunden Zeit hatte, versuchte ich, den Kopf frei zu bekommen und die Panik abzustellen. Ich streifte alle Hemmungen ab, die ich mir normalerweise aufzwang, und meine Gedanken schweiften zu Lincoln. Das Geräusch eines schlagenden Herzens hämmerte durch mein Gehirn. Da-dum, da-dum, da-dum. Ich wusste, es war seines, wusste, dass er noch lebte. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf den zu langsamen Rhythmus seines Herzens, holte tief Luft und machte mich bereit. Vielleicht hatte ich gerade nicht viel Vertrauen in irgendetwas, aber ob ich Lincoln liebte oder hasste – ihm vertraute ich.
Langsam öffnete ich die Augen. Die Sonne schickte ihre ersten hellen Strahlen Goldorange in den Himmel und ich sprang von dem Felsen mit dem schmerzlichen Wissen, dass, was immer dabei herauskommen würde, zumindest ein Teil von mir heute sterben würde.
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
»Für dich eile ich über Wasser und Land. Für dich durchquere ich die Wüste und sprenge Berge entzwei. Und wende mein Gesicht ab von allen Dingen, Bis ich den Ort erreiche, An dem ich allein bin mit dir.«
AL-HALLADSCH
I ch konnte nicht atmen. Ich lag mit dem Gesicht nach unten auf etwas. Etwas Grobkörnigem. Der Gedanke, lebendig begraben zu sein, schoss mir durch den Kopf. Ich beugte eine Hand; mehr Körner zwischen meinen Fingern. Ich verlagerte etwas Gewicht auf meinen Ellbogen, um meinen schweren Kopf zu heben, aber mein Arm glitt unter mir weg und ließ mein Gesicht noch einmal auf den Boden fallen. Ich schnappte nach Luft und spuckte Körner aus, der Schweiß auf meinem Gesicht bot ihnen die perfekte Klebefläche. Ich zwang mich, die Augen zu öffnen, und erblickte einen Streifen sengenden Lichts, bevor ich sie, geblendet, wieder fest zumachte.
Die Stimme, diejenige, auf die man wirklich hören sollte, schrie mich an: Steh auf, steh auf, öffne die Augen. STEH AUF!
Ich schaffte es, auf alle viere zu kommen und mich in eine unbequeme Sitzhaltung zu bringen. Nach und nach machte ich die Augen wieder auf. Das brennende Licht, das ich gesehen hatte, war die gleißende Sonne, die im Zenith stand und vom Sand reflektiert wurde. Sand … aber kein Strand, nur Wüste. Keine Bäume, keine Berge, keine Felsen, keine Erde, nur Sand und … ich.
Wie aufs Stichwort, gerade als ich dachte, ich sei vollkommen allein, hörte ich, wie sich jemand räusperte. Eine längst verloren geglaubte Energiereserve mobilisierte sich und innerhalb einer Nanosekunde stand ich auf den Füßen.
Zu meiner Rechten stand ein Mann. Er sah aus, als wäre er auf dem Nachhauseweg von einer förmlichen Strandparty. Schwarze Hose und weißes Poloshirt, das darüberhing und am Kragen offen war. Keine Schuhe. Ich versuchte, sein Gesicht zu erkennen, während ich in die Sonne blinzelte. Er sah gut aus mit seinem honigbraunen Haar, das auf seine Schultern fiel, und mit seinem Dreitagebart.
Er beobachtete mich geduldig. Weder lächelte er, noch machte er ein finsteres Gesicht; er stand einfach da, schaute, Füße locker auf dem Sand, Hände an den Seiten.
Wieder räusperte er sich, konzentrierte sich auf meine Haltung. Ich war noch immer in Verteidigungsposition: Füße auseinander, Knie gebeugt, Hände bereit. Es war anstrengend, aber langsam entspannte ich meine Pose, richtete mich auf, brachte meine Füße näher zueinander und ließ meine Hände seitlich herunterhängen. Es war weniger offensichtlich, aber ich wusste, dass ich noch immer eine gute Ausgangsposition hatte. Wenn ich mich schnell bewegen musste, hatte ich so noch Chancen in einem Kampf.
Er beobachtete mich einfach, mit unbewegter Miene.
Die Stille dehnte sich aus und mein ohnehin hektisch schlagendes Herz fand heraus, dass es tatsächlich noch schneller schlagen konnte. Sollte ich irgendetwas sagen? Fieberhafte Gedanken prallten in meinem Kopf aufeinander. Hatte Griffin irgendetwas gesagt, was ich sagen sollte? Sollte ich mich vorstellen? Sollte ich weglaufen? Die Sonne steht schon hoch – Lincoln! Wie lange
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