Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
sich hinlänglich aufgeputscht, um seiner Botschaft so viel Nachdruck zu verleihen, dass Rose und Assad sie verstanden.
»Kein Wort über Lars Bjørn und kein Wort über Gordon Taylor, klar? Ich stehe kurz vor einer Explosion, aber wir haben jetzt wirklich anderes zu tun. Also leg los, Rose. Bitte kurz und präzise.«
Sie nickte und machte sich am Flachbildschirm zu schaffen. Das ganze Tohuwabohu schien sie nicht im Geringsten zu beeindrucken.
»Also, hier siehst du das Überwachungsvideo aus Bellahøj, Carl. Man sieht, wie der Junge reinkommt, aber sein Gesicht erkennt man nicht, das wendet er ab.« Rose hielt das Band an, und das graue Bild erstarrte: eine Glastür und eine Gestalt, von oben gesehen.
Assad und Carl traten näher an den Bildschirm heran.
»Wie ein Araber sieht der nicht aus, Carl. Und vom Balkan ist er sicher auch nicht: Die Ohren sitzen ziemlich weit oben am Kopf.«
Komische Beobachtung. Saßen die Ohren von Balkanbewohnern tiefer als bei anderen?
Rose stellte sich neben sie. »Dunkles, lockiges Haar, fast wie ein Latino. Und nicht so alt. Was schätzt du, Carl?«
»Vierzehn, fünfzehn Jahre, habe ich gehört. Er kann aber auch jünger sein, die im Süden reifen ja früh. Aber was sagt ihr zu seiner Kleidung?«
Assad lächelte. »Das Hemd sieht aus wie eins, das mein Onkel tragen könnte.«
Carl nickte. »Genau. So ein Hemd trug vor zehn, fünfzehnJahren jeder durchschnittliche Büroangestellte. Wo um Himmels willen hat er das abgestaubt?«
»In einem Secondhandladen?«, schlug Assad vor.
»Ich glaube, da hätte er sich ein anderes ausgesucht.«
»Vielleicht hat er es aus einem Altkleidercontainer gezogen? Lag vielleicht obenauf?«
»Ja, mag sein.« Carl hielt einen Finger auf den Bildschirm. »Was glaubt ihr, warum verbirgt er sein Gesicht? Und warum hat er eine Versichertenkarte gestohlen und sie als Ausweis benutzt?«
»Ganz einfach«, sagte Assad. »Er hat selbst keine.«
Carl nickte. Assads Vermutung lag durchaus nahe, er hatte selbst auch schon daran gedacht. »Ja, oder er hat was auf dem Kerbholz.«
Assad runzelte die Stirn. »Was für ein Holz, Carl? Er hatte nichts weiter als das Suchplakat und die Halskette in der Hand. Sieh selbst!«
Carl seufzte. »Das ist eine Redensart, Assad. Vergiss es. Ich meinte nur, dass er vielleicht in irgendeine krumme Sache verwickelt ist.«
Rose nahm ihren Block und kritzelte los. »Also: Wenn er nun selbst keine Versichertenkarte hat, dann ist er entweder nicht in Dänemark gemeldet, oder seine Eltern heben das gute Stück für ihn auf. Letzteres glaube ich nicht, so selbstständig, wie der Junge wirkt. Ich notiere also Ersteres.«
»Was meint ihr, könnte er ein Sinti oder Roma sein?«, fragte Carl.
Alle drei gingen mit den Köpfen näher an das Bild heran. Aber sie sahen schnell, dass die Bekleidung des Jungen und sein Aussehen reichlich unbestimmbare Faktoren waren. Sinti, Roma, Franzose, Südosteuropäer – fast alles kam in Frage.
Rose spulte die Aufnahme vor. »Hier zieht er sich zurück, und hier kommst du in den Wachraum, Carl. Da, da sieht man, dass er dich wiedererkennt.«
Die Lachfältchen in Assads Gesicht vertieften sich. »Und der Schelm kann dich offenbar nicht leiden, Carl. Sieh mal, wie er rennt!«
»Ja. Wir haben uns wiedererkannt, wir haben uns bei William Starks Haus gesehen.«
»Tja, und die Tatsache, dass er dort herumgestreunert ist und dass er das Suchplakat und diese afrikanische Kette abgegeben hat, zeigt doch wohl, dass er ein Interesse an dem Vermissten hat, oder? Ob er etwas über ihn weiß? Ob er ein Stricher ist?«
Perplex starrten Carl und Assad Rose an.
»Was guckt ihr so? Wäre doch nicht das erste Mal, dass ein Mann ein Doppelleben führt – mit fatalen Folgen. Falls Stark ein Interesse an Kindern hatte, könnte das hinter der Afrika-Geschichte stecken, das habe ich ja schon mal gesagt. Ist doch schon merkwürdig, dass sich ausgerechnet ein Junge so sehr für diese Geschichte interessiert, das müsst ihr zugeben.«
»Unglaublich, wo du überall Merkwürdigkeiten und Absonderliches siehst, Rose«, sagte Assad.
»Hallihallo!«, ertönte es da auf einmal in ihrem Rücken. Da war er schon wieder, Gordon höchstpersönlich. Wie ein Periskop in feindlichen Gewässern ragte er in der Tür auf und starrte sie mit gesenktem Kopf boshaft an.
»Wir sind gerade ziemlich beschäftigt, Gordon«, erklärte Rose.
»Oh, da würde ich gern zusehen.«
Zusehen! Fehlte dem Mann denn jedes Gefühl für die
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