Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Spezis bei der Karrebæk-Bank in den Strudel geraten und garantiert sofort mit dem Finger auf ihn zeigen. Ganz zu schweigen von der fälligen Erklärung, warum er die Papiere erst jetzt der Polizei zeigte. Verfluchte Scheiße. Warum hatte er sich nicht besser vorbereitet? Wiesohatte er sich keine Erklärung zurechtgelegt, woher diese sogenannten neuen Dokumente auf einmal kamen? Konnte er überhaupt behaupten, er habe sie erst jetzt gefunden? Aber warum hatte er die Polizei dann noch nicht informiert? Ja, warum nicht?
Er sah die beiden Männer an. Nicht der Einzelne beunruhigte ihn, sondern die Konstellation.
Er kannte dieses Gefühl von damals aus der Danish International Development Agency und von den Dienstreisen in all diese entlegenen Flecken. Unablässig war man von Augen umgeben gewesen, die nach Schwachpunkten suchten. Und im Augenblick fühlte er sich wie damals, als er auf der Schilfmatte im Sand vor einem flackernden Feuer gesessen hatte, umringt von bewaffneten Somaliern. Einer hatte seine Aufmerksamkeit abgelenkt und ein anderer darauf gelauert zu übernehmen. Verhandlungen unter ständig neuen Voraussetzungen. Nein, das war nie seine starke Seite gewesen.
Im Moment führte der dänische Polizist. Er war eindeutig der Vorgesetzte und konnte jederzeit das Gespräch beenden. Deshalb musste er sich an ihn hängen. Der kleine arabisch aussehende Typ war derjenige, der zufasste. Trotz freundlicher Augen und eines Lächelns, das einen in anderen Situationen vielleicht in Sicherheit wiegen mochte – hinter dem zuvorkommenden Äußeren lag eine undefinierbare Gnadenlosigkeit. René hatte gesehen, wie ein aus dem Nichts kommendes Rudel Löwen eine Herde friedlich grasender Impalas überfiel. So wie ein Impala fühlte er sich gerade.
»Was wissen wir denn schon groß von anderen Menschen?«
»Sprach Stark jemals von einem Ort oder von Menschen, zu denen er eine besondere Beziehung hatte? Mal abgesehen von seinem Haus, seiner Freundin und seiner Stieftochter?«, fragte der dänische Ermittler. »Ich meine einen Ort, von dem man sich vorstellen könnte, dass er ihn als Fluchtort nutzen würde? Oder um dort sein Leben zu beenden?«
Was um Himmels willen soll ich darauf antworten?, dachte René Eriksen. Soll ich etwas erfinden? Etwas, was sie endlich abziehen lässt?
Er sah den Araber an, aber dessen Röntgenblick erstickte all seine Ideen im Keim.
»Leider nein. Er war, was Persönliches anging, recht verschlossen.«
»Sie waren nicht befreundet, sagten Sie, aber sind Sie vielleicht trotzdem mal bei Stark zu Hause gewesen?«, wollte plötzlich der Araber wissen.
René E. Eriksen schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin der Meinung, dass man Privatleben und Arbeit nicht vermischen sollte.«
»Sie können also auch nichts über irgendwelche Eigentümlichkeiten Ihres Mitarbeiters sagen?«
»Eigentümlichkeiten?« Er erlaubte sich ein verhaltenes Lächeln. »Sind wir nicht alle im Grunde etwas sonderbar? Um als dänischer Beamter zu arbeiten, sollte man das vielleicht sogar sein.«
Doch derartige Ablenkungsmanöver prallten vollkommen an den beiden ab.
»Ich denke hier vor allem an seine Sexualität«, fuhr der Araber fort.
René Eriksen hielt die Luft an, das Adrenalin schoss in sämtliche seiner Zellen. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Tat sich hier gerade ein Ausweg auf? Bot ihm der drollige kleine Mann etwa die Schlüssel zur Freiheit an?
Solange sie ihm nur nicht ansahen, wie heftig er auf die Frage reagierte!
Bewusst schwieg er eine Weile, strich sich dann über den Schnurrbart und schob die Lesebrille auf die Nasenspitze. Holte etwas tiefer Luft. Faltete die Hände auf dem Tisch und machte sich für die Antwort bereit. Alles Routine – genau wie bei einer schwierigen Budgetverhandlung.
»Ich weiß nichts Genaues«, sagte er schließlich. Er bedachte den Araber mit einem entschuldigenden Lächeln und richtete seinen Blick dann auf den Kriminalkommissar. »Sehen Sie es mir deshalb bitte nach, falls ich Sie in eine Sackgasse führe und Stark nicht gerecht werde. Wie ich gerade gesagt habe, gab es zwischen uns keine private Vertrautheit.«
Beide nickten sie ihm zu wie Tauben, die auf die Krumen zuwackelten, die man ihnen hinstreute. Das Futter, dessentwegen sie gekommen waren, befand sich endlich in Reichweite, das strahlten sie aus.
»Ich glaube, dass er an und für sich in der Richtung an einem Mangel litt. Ich meine …« Er räusperte sich. »Er führte mit seiner Lebensgefährtin
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