Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Die Benutzeroberfläche öffnete sich, und wie ein neuer Morgen am Horizont erschien ein virtueller Schreibtisch, darauf Tildes Porträt, aufgenommen in einem sorglosen Augenblick. Einfach »Morbus Crohn« – ohne Bindestrich, keine außergewöhnliche Klein- oder Großschreibung – et voilà, schon war er im gelobten Land.
Und als er so mit großen Augen vor dem Bildschirm saß, hörte er, wie oben die Pantoffeln zum Badezimmer schlurften und die Tür morgenmürrisch zugeknallt wurde. Okay, dann blieben ihm noch zehn bis fünfzehn Minuten, bis er das Notebook zusammenklappen und so tun musste, als sei er gerade aufgestanden. Sonst wäre er endlosen, ermüdenden Nachfragen ausgesetzt.
Er überflog die Ordner auf dem Desktop, alle angelegt zwischen 2003 und 2008 und penibelst sortiert und klassifiziert. Er klickte einige von ihnen an, fand den Inhalt aber nicht weiter interessant. Das meiste waren wissenschaftliche Untersuchungen, Briefwechsel mit Ärzten und Angehörigen von Betroffenen weltweit, Protestschreiben und Bettelbriefe. Aber auch Auszüge aus Tildes Krankenakte und Testergebnisse waren dabei. Aus alledem sprach der verzweifelte Wunsch, die Krankheit der Stieftochter zu verstehen und etwas dagegen zu unternehmen. Das alte Lied.
Dann ging er in den Bereich »Dokumente«, um zu prüfen, ob darin Ordner mit kompromittierenden Informationen versteckt sein könnten. Ordner, deren Inhalte zeigten, dass Stark von der Veruntreuung der Baka-Mittel gewusst hatte. Die meisten Menschen zeigten sich ratlos angesichts von Starks Verschwinden – Renés Ratlosigkeit bezog sich ausschließlich darauf, warum Stark nicht wie geplant bereits in Kamerun verschwunden war. Und warum er vorzeitig zurückkam. Irgendetwas musste in Kamerun passiert sein. René kannte Stark rechtgut. Vermutlich hatte der Mann irgendwelche Vorkenntnisse gehabt, die ihn dermaßen prompt hatten reagieren lassen.
Als er von oben hörte, wie seine Frau die Türen jetzt etwas sanfter behandelte und statt in Pantoffeln barfuß ging, wusste er, dass es an der Zeit war, aufzuhören.
Er schloss einige Fenster und ging rasch die restlichen Ordner unter »Dokumente« durch. Da fiel ihm ein namenloser auf.
Fünf Minuten, so viel Zeit blieb ihm wohl noch. Also klickte er den Ordner an, woraufhin mindestens zwanzig Unterordner sichtbar wurden. Manche von ihnen waren nach afrikanischen Staaten benannt, darunter Tansania, Mosambik, Kenia oder Ghana. Andere Ordnernamen – wie »Knktnmn«, »Bestks.«, »Vrtrg«, »pol1«, »pol2« und »pol3« – waren kryptischer.
René stutzte. Mehreren der genannten Staaten wurde seit Längerem keine Entwicklungshilfe mehr gewährt, andere gehörten zu der Kategorie Länder, bei denen es in den letzten Jahren große Probleme gegeben hatte, ordentliche Rückmeldungen zu bekommen.
René klickte auf den Ordner mit dem Titel »Knktnmn«, in dem Stark, wie sich zeigte, seine Kontakte gespeichert hatte. Eilig überflog René die Liste. Viele der Namen waren rot durchgestrichen und durch andere ersetzt, meist schon lange vor Starks Verschwinden, aber René kannte sie alle noch.
Kopfschüttelnd öffnete er den nächsten Ordner. »Vrtrg« wirkte in mancherlei Hinsicht komplexer.
René runzelte die Stirn. Oben knallte seine Frau mit den Schranktüren, es war also einer dieser Tage, wo sie fand, dass keines ihrer Kleidungsstücke ihr stand oder passte.
Jetzt sah er, dass mehrere der Verträge in diesem Ordner zu dem Typ vertraulichen Materials gehörten, das man nicht ohne Weiteres aus dem Ministerium mit nach Hause nahm. Aber als er den ersten öffnete, um zu prüfen, ob es der Vertrag in vollem Wortlaut war, entdeckte er zu seinem Erstaunen, dass es sich nur um einen Appendix zu dem eigentlichen Vertrag handelte.
Warum hat dieser Vertrag einen Appendix? Das ist ja völlig unüblich, dachte er und öffnete den nächsten. Auch hier fand er nicht den eigentlichen Vertrag, sondern wieder nur einen Appendix dazu. Und nachdem er sie nach und nach alle geöffnet hatte, wurde ihm bewusst, dass Stark zu mindestens fünfundzwanzig Verträgen des Ministeriums Appendices ausgefertigt hatte. Jeder einzelne mit Angabe einer außerordentlichen Überweisung – und alle nur bei Projekten in respektabler Größenordnung, deren Budget in Starks Verantwortung fiel.
René addierte die Beträge, und als er in Summe auf mehr als zwei Millionen Kronen kam, wurde ihm klar, dass er wohl nicht der einzige Langfinger in seinem Ministerium war.
Es
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