Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
erst nach Mitternacht oder sehr früh morgens abgeschickt worden. Der Mann hatte offenbar nicht viel Schlaf gebraucht.
René reckte sich. Was ihn anging, so meldete sich sein Schlafbedürfnis jetzt mit aller Macht, aber dafür war die Zeit inzwischen zu knapp. In drei Stunden musste er im Ministerium sein, und später würde sich dann zeigen, ob er einen gewissen Anruf in Curaçao tätigen musste oder ob sich das erübrigte – was er stark hoffte, denn er wollte derjenige sein, der bestimmte, wann der Zeitpunkt für die offene Auseinandersetzung mit Teis und Brage-Schmidt gekommen war.
René rieb sich die müden Augen und ergänzte, nach nochmaliger Durchsicht der Ordner auf dem Laptop, seine Notizen um ein paar Informationen über Starks Mutter, über eine Therapie seiner Stieftochter und über Schachturniere, an denen Stark vor Jahren teilgenommen hatte.
Er hatte jetzt wirklich das Gefühl, das meiste in diesem Zusammenhang durchgesehen zu haben. Aber wer sagte denn, dass die Lösung hier zu finden war? Manche Leute wählten ihre Passwörter nach irgendetwas, das sie früher getan hatten, etwas, das Spuren in ihrem Leben hinterlassen hatte. Zum Beispiel nach irgendeinem Berg, auf den sie geklettert waren. In dem Film ›Citizen Kane‹ war das letzte Wort des Zeitungsmagnaten auf dem Totenbett »Rosebud« gewesen – eine kryptische Äußerung, die niemandem etwas gesagt hatte. Nur der Zuschauer sah am Ende, als alle Hinterlassenschaften des Verstorbenen in Rauch aufgingen, dass auf einem alten Schlitten aus Kindheitstagen das Wort »Rosebud« stand.
Welches Wort könnte es in Starks Fall sein?
Wie hypnotisiert starrte René Eriksen auf das leere Eingabefeld, als hätte dieses ein Eigenleben und könnte den Code von sich aus offenbaren.
Nun komm schon! Er merkte selbst, wie er sich unter Druck setzte. Wenn er das Passwort jetzt nicht herausfand, musste er aufgeben, denn Hilfe konnte er sich nicht holen. Mit einem Laptop, der offiziell gar nicht existierte, konnte er ja schlecht zu einem Computerservice gehen.
Aber ob sich hinter dem privaten Benutzerkonto überhaupt etwas verbarg, das er wissen musste? Informationen, die ihm gefährlich werden konnten? Oder hatte Stark dort nur ein paar Fotos von nackten Frauen abgespeichert und darüber hinaus persönliche Mails, die nur ihn etwas angingen?
Erschöpft streckte René den Nacken, atmete ein paarmal tief durch und startete dann eine letzte systematische Versuchsrunde. Zuerst tippte er den Namen von Starks Mutter in dasFeld, dann ihre Personennummer, danach ihre Initialen plus Personennummer. In dieser Weise versuchte er es vorwärts und rückwärts und in allen Kombinationen, die ihm einfielen. Schließlich strich er die Mutter von seiner Liste.
Danach probierte er die Namen verschiedener Schachgroßmeister durch: Ruy López, Emanuel Lasker, Bobby Fischer, Efim Bogoljubow, Bent Larsen, Anatoli Karpow sowie alle möglichen anderen mit dem Schachspiel verknüpften Suchergebnisse aus dem Internet – berühmte Turnierschauplätze, die Bezeichnungen bekannter Spielzüge und Eröffnungen, im Grunde die gesamte Schachterminologie, und zwar sowohl auf Dänisch als auch auf Englisch.
Nichts! Was er da tat, war doch zum Scheitern verurteilt, das Suchen nach der berühmten Nadel im Heuhaufen.
Genervt schüttelte er den Kopf, sah zur Uhr, horchte kurz, ob seine Frau schon aufgestanden war, checkte das Wetter und wandte sich dann erneut dem leeren Feld zu.
Was, außer seiner Arbeit, bedeutete William Stark etwas? Seines Wissens gab es im Leben dieses Mannes nur Schach, seine Lebensgefährtin und deren Tochter. Aber alles, was damit zusammenhing, hatte er durchprobiert.
Wie wäre es mit etwas weniger Naheliegendem?
Kosenamen? Besondere Daten? Das erste Rendezvous? Der erste Kuss? Was bedeutete dem Mann etwas?
Er nahm sich die Namen von Malene und Tilde Kristoffersen vor und versuchte es zum x-ten Mal damit. Viel zu viele Kombinationsmöglichkeiten.
Was war das Wichtigste? Das Allerwichtigste? Vielleicht die Erkrankung des Mädchens und der Versuch, ihr zu helfen? Nichts hatte Stark in seinen letzten Jahren mehr beschäftigt als der Gesundheitszustand seiner Stieftochter. Das wusste er von den wenigen Malen, als er sich mit eingeschränkter Bewunderung für Starks Hartnäckigkeit dessen Schilderungen minimaler Therapiefortschritte angehört hatte.
Er sah auf seine Notizen und tippte dann ohne große Erwartungen »Morbus Crohn« in das Feld.
Und da passierte es.
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