Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Bushaltestellen und Ticketschaltern warteten oder den Vergnügungspark verließen, war die Frau gezwungen, langsamer zu gehen. In dem Moment, als sie ihre Tasche von der Schulter nahm und an sich drückte, schnellte Marcos Hand vor und steckte ihr seine Botschaft zu: den Hinweis auf die Schließfächer, die zur Zwischenlagerung des Diebesguts dienten, und auf den Lieferwagen, der täglich um siebzehn Uhr beim H.-C.-Andersen-Schloss die Diebe und ihre Tagesausbeute einsammelte. Wenn die Polizei diesen Hinweisen nachging, würde sie sehr schnell wissen, wer zu Zolas Trupp gehörte und wofür Zola stand. Und wenn nicht? Wenn die Frau den Zettel gar nicht erst las oder nicht ernst nahm?
Augenblicklich fühlte sich Marco wieder wie ein unmündiges,hilfloses Kind – dabei sehnte er sich so sehr danach, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sich von allem zu befreien. Sich zu rächen. Aber er brauchte sich gar nichts vorzumachen. Er war hilflos. Er war das Opfer einer Treibjagd, deren Jäger er größtenteils nicht einmal kannte. Und es gab nicht eine mitfühlende Menschenseele, an die er sich wenden konnte.
Wenn er sich durch die Tietgensgade, um den Kvægtorvet herum, den Gasværksvej und an den Seen entlang vom Zentrum entfernte, standen die Chancen, Zolas Kopfgeldjägern zu entgehen, wahrscheinlich ganz gut. Früher oder später würde er dann zum Nordhafen gelangen, und den kannte er wie seine Westentasche. Mit etwas Glück fand er dort vielleicht ein Boot, auf dem er sich verkriechen konnte, bis er wusste, wie es weiterging.
Auf dem Weg entlang des Sankt-Jørgens-Sees fühlte sich der Nieselregen lau und erfrischend an. Eine Frau mit ihrem Dackel und ein Liebespaar waren die Einzigen, die sich bei dem Wetter nach draußen gewagt hatten.
Marco nahm eine schwache Bewegung im Schilf wahr und blieb stehen. Eine Schar Schwanenküken folgte der Mutter ins offene Wasser. Sieben, zählte er und sah den flauschigen Wesen gerührt bei ihrem hektischen Gepaddel zu. Da sauste plötzlich der Dackel zwischen den Beinen seines Frauchens hindurch, hechtete ins Wasser und attackierte eines der Schwanenjungen. Marco und die Hundebesitzerin schrien gleichzeitig auf, und die Schwanenmutter machte eine Wende, konnte die Bedrohung aber nicht so schnell erkennen. Da sprang Marco.
Das Wasser war kalt, aber es reichte ihm nur bis knapp übers Knie. Mit der flachen Hand klatschte er auf die Oberfläche, woraufhin sich die Schwanenmutter mit gespreizten Flügeln aufrichtete. Mit dem nächsten Schlag traf Marco das Hinterteil des Hundes, bevor dieser zuschnappen konnte. Das Schwanenküken suchte eilig das Weite.
Den empörten Beschimpfungen der Hundebesitzerin zum Trotz war Marco sehr zufrieden mit sich – bis er die beiden Polizisten entdeckte, die vom Planetarium her auf ihn zugerannt kamen. Sie hatten die ganze Szene wohl beobachtet und Marco wiedererkannt.
Ohne lange zu überlegen, stieß er die Frau beiseite und rannte los.
Das Viertel, durch das er kam, Frederiksberg, wirkte deutlich abweisender als das vertraute Østerbro. Fast alle Häuser hatten Gegensprechanlagen, und es gab kaum Geschäfte. Wo sollte er sich hier verstecken? Nicht mehr lange, und die ersten Streifenwagen würden nach ihm suchen. Die Hauptstraßen wurden vermutlich jetzt schon überwacht. Also lief er wahllos durch die kleinen Nebenstraßen, kreuz und quer, von einer in die andere, bis er einigermaßen sicher war, die zwei Beamten abgeschüttelt zu haben. Hinter einem Baum rang er nach Atem.
Steenstrups Allé, las er auf dem Straßenschild. Ein Stück entfernt erkannte er das ehemalige Gebäude von Danmarks Radio, der Bau vorn rechts musste das Forum sein, die riesige Veranstaltungshalle, und dahinter war der Eingang zur Metro. Wenn er ungesehen bis dorthin gelangte, konnte er verschwinden. Nur – wohin?
Der einzige Mensch, der ihm einfiel, war Tilde. Sie würde ihm vielleicht glauben, seine Situation verstehen und sich stellvertretend für ihn an die Polizei wenden.
Hinter dem Forum rauschte der Verkehr über die Rosenørns Allé, an den Bushaltestellen zu beiden Seiten drängten sich die Feierabendpendler.
Marco spähte hinüber zu den Glaspyramiden, die für Lichteinfall in den Metrogängen sorgten, und weiter zum Eingang der U-Bahn. Kein Gesicht, weder ein bekanntes noch ein unbekanntes, das Anlass zur Beunruhigung gab. Also trat er aus seiner Deckung und eilte an dem frei stehenden Aufzug vorbei auf die Rolltreppen zu.
Den Schatten, der hinter
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