Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Schuttrutsche, zusammengesteckt aus vielen kurzen Plastikrohren. Er biss die Zähne zusammen, hechtete zur Seite und schleuderte gleichzeitig seinem Gegenüber die Eisenstange vor die Füße. Und noch während diese auf dem Boden aufschlug, abprallte und seinem Widersacher gegen die Schienbeine knallte, hatte Marco den Rand der Schuttrutsche gepackt und war mit den Beinen voran hineingesprungen.
Er hörte den Kerl fluchen und ließ los.
Zum Glück bremsten die Kanten der einzelnen Plastikelemente die Abwärtsgeschwindigkeit ein wenig. Über ihm rumpelte es. Scheiße, dachte Marco, der kommt doch wohl nicht hinterher? Der passt da doch gar nicht durch.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah er das Ende der Röhre unter sich – dann lag er schon im Schuttcontainer, auf einem Haufen von Plastikverpackungen und Steinwolle.
Rasch rollte er sich auf die Seite und griff sich ein Verschalungsbrett mit spitzen Nägeln am Ende, um es seinem Verfolger über den Schädel zu ziehen.
Doch der tauchte nicht auf. Irgendwo weiter oben hatte er offenbar einsehen müssen, dass er doch zu groß für die Röhre war. Sein Fluchen drang unten heraus wie falsche Töne aus einem Blasinstrument.
Notdürftig befreite sich Marco von der Steinwolle und hechtete aus dem Container, denn auf der Treppe hallten bereits die Schritte des Komplizen, der jetzt offenbar übernommen hatte.
Mit zitternden Beinen hangelte sich Marco über den Zaun und rannte über den Rathausplatz. Erst in der Fußgängerzone wagte er einen Blick über die Schulter. Vor der großen Brauerei stand eine Frau, breit wie ein Tor und schwarz wie die Nacht, und sah ihm nach.
Wie von der Tarantel gestochen, sprintete er weiter, ungeachtet der Schmerzen in seinem Bein und des irrsinnigen Juckreizes, der von den Steinwollefasern auf seiner Haut, auf den Wimpern und im Rachen herrührte. Der Dämmstoff überzog seine Kleidung wie ein Pelz, und vom Kratzen wurde es nur noch schlimmer. An der Marmorbrücke über den Frederiksholms-Kanal blieb er stehen und blickte prüfend in das Wasser, das in der Abenddämmerung fast schwarz wirkte. Ob sich die Fasern wegspülen ließen? Kurzentschlossen rannte er die Treppe zum Anlegesteg hinunter, an dem kleine Motorboote vertäut lagen, und sprang in den Kanal.
Das Wasser war kalt, aber es brachte Linderung. Er schwamm ein paar Züge und strich sich dabei über Hemd und Hose. Eine Frau blieb auf der Brücke stehen und fragte, ob alles okay sei. Marco nickte und tauchte noch einmal unter. Als er hochkam, lehnten oben zwei grinsende, geschniegelte junge Kerle an ihrem parkenden Auto und tippten sich mit dem Finger an die Stirn.
In diesem Moment registrierte Marco den Afrikaner im grünen Basketballshirt, der von der Rådhusstræde angelaufen kam.
Nun haut schon ab, ihr Idioten, dachte er, als die beiden Typen am Kai auf ihn deuteten, aber da war es bereits zu spät. Sein Verfolger hatte ihn entdeckt: Er war auf der Stormbrücke stehen geblieben und überlegte offenbar, wie er am besten vorging.
Unterdessen stiegen die beiden Grinser, nicht ahnend, was sie angerichtet hatten, in ihr Auto und fuhren davon.
Wieder saß Marco in der Falle. In welche Richtung er sich auch treiben ließe, der Basketballtyp würde ihm oben auf der Kanalstraße folgen. Und egal, wo er aus dem Wasser käme, der Kerl würde ihn in Empfang nehmen. Die einzige Chance, die Marco auf die Schnelle sah, war, sich hinter einem der vertäuten Boote zu verstecken und darauf zu hoffen, dass die Nacht hereinbrach.
Also tauchte er wieder ab und schwamm in langen Zügen unter der dümpelnden Bootsreihe hindurch, bis er meinte, etwa auf der Höhe zu sein, wo der Typ bis eben gestanden hatte. Der würde wahrscheinlich, wie zuvor Marco, die Treppe zum Anlegesteg hinunterlaufen und sich somit von ihm entfernen.
Falls der Kerl ins Wasser sprang, musste Marco eben bis zur Stormbrücke tauchen, dort versuchen, ungesehen aus dem Wasser zu kommen und weiter bis zu irgendeinem belebten Ort.
Doch der Afrikaner sprang nicht. Zwar nahm er, wie erwartet, die Treppe hinunter zum Anlegesteg, aber dann schritt er ganz langsam die Reihe der Pfähle ab, an denen die Schiffe vertäut waren.
Er ließ sich Zeit und blieb jedes Mal, wenn er ein Boot passiert hatte, stehen. Er wollte wohl sichergehen, dass Marco nicht in eines hineingeklettert war und sich nun auf den Schiffsboden presste, dass er nicht außen an einer Bordwand hing und dass nicht irgendwo verräterische Luftblasen
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