Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
deutlicher, aber es klang nicht nach Schritten, sondern eher nach dem Knistern von Plastikfolie oder Ähnlichem.
Die sind hier! Die beiden Schwarzen! Urplötzlich war es ihm klar. Mit Osteuropäern kannte er sich aus, aber Afrikaner konnte er nicht einschätzen. Falls sie es waren.
Das Knistern kam eindeutig aus zwei Richtungen, direkt von unten aus dem Aufzugsschacht und von der Treppe hinten. Damit waren die beiden einzigen Fluchtwege blockiert. Er hörte, wie sie etwas zueinander sagten. Sprachen sie Französisch? Marcos Blick flog durch den riesigen Raum. Schlupfwinkel gab es so gut wie keine, und die vorhandenen würden sie sofort überprüfen.
Okay, dachte Marco, fliehen kann ich nicht, verstecken kann ich mich nicht, und springen kann ich auch nicht. Bleibt nur die Selbstverteidigung. Rasch hob er eine Eisenstange vom Boden auf, packte sie mit beiden Händen und stellte sich oben an die Treppe wie ein Jedi mit seinem Lichtschwert. Aber übermenschliche Kräfte verspürte er keine. Im Gegenteil, er versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten und seine zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen.
Der erste Typ kam die Treppe herauf. Tatsächlich ein Schwarzer. Aber nicht der, der hinter dem Bus hergerannt war. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, denn er hatte die niedrig stehende Sonne im Rücken. Dafür stach das gelbe T-Shirt umso deutlicher hervor, Lakers 24 stand darauf.
»Hello kiddie.« Er sprach mit gedämpfter Stimme. »Come here to me.«
In einiger Entfernung blieb er stehen und winkte Marco zu sich herüber. Dieser wich zurück in Richtung Vesterbrogade, kam mit jedem Schritt dem gähnenden Abgrund näher. Hinter dem Mann sah er, wie sich das Riesenrad im Tivoli drehte, hörte die Besucher vor Begeisterung kreischen, konzentriert auf das winzige Universum ihrer Gondeln, als gäbe es nichts außerhalb dessen. Noch bevor diese Gondeln zum Halten kämen, würde Marco tot sein, und kein Mensch auf der Welt würde wissen, wer er gewesen war und was aus ihm hätte werden können.
Als ihm das so plötzlich bewusst wurde, kamen ihm dann doch die Tränen.
»Poor boy!« , hörte er den Schwarzen sagen. Noch hatte er keine Waffe gezogen, aber das würde gleich passieren, da war sich Marco sicher.
Mit etwas Glück könnte er ihn überrumpeln, indem er zum Aufzugsschacht spurtete und den Sprung wagte. Zwar wartete bestimmt der Komplize ein Stockwerk tiefer, aber wenn Marco sich an ihm vorbei fallen ließe und es ihm gelänge, die Metallstange horizontal in einer der unteren Etagenöffnungen zu verkanten, könnte er vielleicht seine Haut retten. Eine minimale Chance bestand.
Er trat einen Schritt zur Seite. Doch der Mann schien Gedanken lesen zu können und schnitt ihm den Weg ab. Marco blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Erst als sie sich fast gegenüberstanden, konnte er das Gesicht des anderen richtig sehen. Er war älter als Marco, aber trotz der vielen Falten wohlkaum mehr als fünf, sechs Jahre. Quer über seine Nase verlief eine lange weißliche Narbe, und sein linkes Auge war halb geschlossen. Er hatte etwas von einem Krieger, wirkte aber weder zornig noch aggressiv, sondern eher wie ein Zimmermann, der vor dem Feierabend noch schnell einen allerletzten Nagel einschlagen musste. Ruhig, zielstrebig und eiskalt.
Und dann zog er das Messer – mit einer blitzartigen, fließenden Bewegung.
Marco schwang zwar ein-, zweimal mit der Eisenstange, aber es war eher ein hilfloses Rudern. Ihm war bewusst, dass der Mann jeden Moment ausholen und ihm die Schneide mit aller Kraft in die Brust stoßen würde. Denn genau dafür war das Messer gemacht: kurzer, griffiger Schaft und beidseitig geschliffene Klinge.
Wäre die Stange nicht so schwer oder Marco kräftiger gewesen, hätte er wie mit einem Baseballschläger den Schwung des Messers parieren können. Aber das war unmöglich, und so trat er bis dicht an die Außenkante des Betonbodens und wartete ab.
Eine gefühlte Ewigkeit stand er einfach nur da, während ihm wie im Zeitraffer, aber doch mit unglaublicher Präzision, all jene Momente des letzten halben Jahres durch den Kopf schossen, in denen er geglaubt hatte, dem Tod ins Auge zu blicken.
Da riss ihn ein lautes Hupen aus seiner Trance. Es war unverkennbar das Hupen eines Autos unten auf der Straße, aber es drang als verzerrte, dröhnende Fanfare aus allernächster Nähe an sein Ohr. Irritiert wandte Marco den Kopf in Richtung des Schalls und entdeckte neben sich das obere Ende einer
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