Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Moment, in dem René die Türklinke im Rücken spürte, holte der Afrikaner aus und zielte direkt auf seinen Hals.
René war in diesem Augenblick gar nicht richtig anwesend. Körper und Geist waren wie getrennt, ebenso wie sein Oberkörper von seinen Gliedmaßen, die blutende Hand von ihrem Arm. Die Hand mit dem Messer führte ebenfalls ein Eigenleben, als sie sein Leben schützte – indem sie auf wundersame Weise nicht nur den Hammerschlag auf Halshöhe parierte, sondern obendrein der Hand, die den Hammer führte, einen so tiefen Schnitt zufügte, dass das Blut aus der Pulsader am Handgelenk spritzte.
Verblüfft wollte sich der Afrikaner zurückziehen, aber René, über den sich das Blut ergoss, hielt ihn fest, und der Hammer fiel zu Boden.
Erst jetzt erkannte René die rasende Wut in den Augen des anderen. Der Afrikaner holte zu einer Kopfnuss aus, aber René wich rechtzeitig zurück, stieß dabei jedoch so heftig gegen die Klinke in seinem Rücken, dass die Tür hinter ihm aufsprang und beide Männer im Nebenzimmer zu Boden stürzten.
Eine gefühlte Ewigkeit lag der Bursche auf René. Er unternahm immer neue Versuche, ihm in den Hals zu beißen, doch irgendwann wurden seine Bewegungen langsamer und schwächer, und schließlich trat Stille ein.
René rang keuchend nach Luft. Ein paar Minuten lang fürchtete er, der Schock und das Adrenalin würden sein Herz zum Stillstand bringen. Doch dann, in einem einzigen tiefen Atemzug, kehrte sein Reaktionsvermögen zurück und mit ihm der Ekel. Hastig wälzte er den Toten von sich. Dann lag er noch lange auf dem Rücken und starrte an die Decke. Erst nach einer geraumen Weile drehte er sich auf die Seite, um zu prüfen, wo er überhaupt gelandet war.
Direkt vor sich entdeckte er zwei Füße in derben Schnürstiefeln, wie sie eigentlich nur Wanderer benutzten. Langsam glitt sein Blick an den Beinen hinauf, wobei er längst wusste, dass der Mann vor ihm nur Jens Brage-Schmidt sein konnte. Der hatte nun also übernommen. Alles war umsonst gewesen, der ganze Kampf, alles.
Nüchtern, distanziert und schicksalsergeben, ähnlich wie vor wenigen Minuten schon einmal, ließ René die Augen weiter an seinem Henker hinaufwandern – um verblüfft festzustellen, dass der Mann im Rollstuhl saß. Und dass sein Blick vollkommen leer war.
Mit einem Ruck kam René auf die Füße, wobei er fast in dem Blut ausrutschte, das ihn umgab.
Der Mann vor ihm war vollständig paralysiert. Überall standen Pillengläser, auf der Fensterbank lag eine noch ungeöffnete Packung mit Windeln. Der Tisch war voller Flaschen mit medizinischem Alkohol, Baumwolltüchern und Einmalwaschlappen, wie sie in Krankenhäusern benutzt wurden.
René beugte sich vor und sah dem Mann direkt ins Gesicht. Absolut keine Reaktion.
Da stieg er über die Leiche des Afrikaners, nahm eines der Baumwolltücher und wickelte es um seine Hand, an der zweiFinger schlaff herabhingen. Wenn er erst einmal weit weg war, musste er damit zum Arzt. Da waren sicher einige Nerven durchtrennt.
Sein Blick fiel auf einen grünen Pappordner, auf dem Brage-Schmidts vollständiger Name sowie seine Personennummer standen. René öffnete ihn, und schon bei der ersten Seite riss er überrascht die Augen auf. In der Krankenakte war ganz sachlich vermerkt, unter welchen Umständen die Gehirnblutung eingetreten war, mit Datum und genauer Uhrzeit. 4. Juli 2006. Das war lange, bevor sie mit dem Betrug begonnen hatten. Deshalb also war Brage-Schmidt nie persönlich zu den Aufsichtsratssitzungen erschienen. All die Jahre hatten sie immer nur mit Boy zu tun gehabt.
René schüttelte den Kopf. »Was wäre wohl geschehen, wenn du nicht in diesen Zustand geraten wärst, hm?«, sagte er und tätschelte die Wange des alten Mannes.
Was für ein erbärmliches Leben. Einfach so dahinzuvegetieren. Da wäre er doch besser gleich gestorben.
Nach einem letzten Blick auf den Alten ging René durchs Haus, bis er Boys Zimmer fand. Dort stand nicht nur ein gepackter Koffer, dort lagen auch wie erwartet die Aktien, ordentlich mit einem Band verschnürt.
Er nahm den Packen und blätterte ihn kurz durch. Erst beim Verlassen des Raumes merkte er, dass er überall im Haus blutige Fußspuren hinterlassen hatte.
Auf dem Weg zurück zu Brage-Schmidts Zimmer entdeckte er neben einem Kerzenständer Streichhölzer. Nachdenklich griff er nach der Schachtel. Und ebenso nachdenklich stand er kurz darauf wieder vor der reglosen Gestalt im Rollstuhl. Eine ganze Weile
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