Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
hatte – zehn Sekunden? Eine Minute? –, als er hörte, wie die Geräusche sich wieder entfernten. Sie waren tiefer in den Wald vorgedrungen.
Ich bleibe einfach liegen, dachte er. Wenn Zola mit seinem Suchtrupp aufgab, würden sie sicher auf demselben Weg durch den Wald zurückkommen. Hätten sie an der Straße keine Wache postiert, wäre Marco zurückgerannt und dann über die Felder geflohen. Aber so traute er sich das nicht. Was konnte er tun, außer still und reglos auszuharren?
Erst jetzt drang ihm ein muffiger, leicht fauliger Geruch in die Nase. Keine Frage, hier ganz in der Nähe musste ein totes Tier liegen, ein Vogel, ein Eichhörnchen oder vielleicht ein Hase. Eine gefühlte Ewigkeit lag er nun schon in der eiskalten Erde, und die Regentropfen hatten sich längst ihren Weg durch die Tannenzweige zu ihm gebahnt. Es dauerte lange, bis sie zurückkamen. Er konnte ihren Stimmen eine ganze Weile folgen, konnte hören, wie sie schimpften, aber so wütend ihr Geschimpfe auch klang, Marco hörte vor allem eines heraus: Angst.
»Wenn wir ihn finden, wird es für ihn selbst am schlimmsten«, sagte eines der Mädchen, vermutlich Sascha, ganz genau konnte er die Stimme nicht zuordnen. Mit ihr hatte Marco sich eigentlich immer gut verstanden.
Als Letzte zogen sein Vater und Zola an seinem Versteck vorbei, bei ihren Stimmen war kein Irrtum möglich. Und sie hatten tatsächlich den Hund bei sich! Marco hörte sein widerliches Keuchen und spürte, wie sich sein Nacken versteifte.
Plötzlich begann der Köter auch noch zu bellen und zu fiepen, es klang, als stünde er direkt neben Marcos Versteck. Wenn der jetzt anfängt zu buddeln, ist es vorbei, dachte Marco. Er hielt die Luft an, obwohl er wusste, dass das völlig sinnlos war.
»Wir müssten jetzt ungefähr an der Stelle sein, wo wir das Loch gegraben haben.« Das war Zolas gedämpfte Stimme, nur wenige Meter entfernt. »Hör dir den Hund an, der flippt total aus, es muss hier ganz in der Nähe sein.« Fluchend zog er das aufgebrachte Tier hinter sich her. »Dir ist ja wohl klar, dass wir jetzt ein noch größeres Problem am Hals haben als damals? Und das hat uns einzig und allein dein Sohn eingebrockt. Wir müssen uns in nächster Zeit absolut bedeckt halten – wer weiß, was Marco noch so alles einfällt. Wenn du mich fragst, sollten wir sogar überlegen, die Leiche woanders zu vergraben. Die ist jetzt zu dicht am Haus.«
Marco lag wie ein Stein in der Erde, absolut reglos. Aber sobald die Stimmen verklungen waren, schüttelte er hastig die Erde von sich ab. Garantiert würden Zola und Chris später mit dem Hund wiederkommen – und dann musste er weg sein, weit weg. Das Risiko konnte er nicht eingehen.
Mühsam bewegte er die steif gefrorenen Arme und drückte seinen Rücken durch. Sämtliche Knochen taten ihm weh. Er suchte an beiden Seiten des Erdlochs Halt, um sich hochzuziehen. Als er Äste und Zweige beiseitefegte, berührte er plötzlich eine seltsame, leicht nachgebende Masse. Darunter spürte er etwas Hartes. Der Gestank von Tod und Verwesung überwältigte ihn.
Während er sich aus dem Loch hochhievte, hielt er die Luft an. Er versuchte zu erkennen, was er da eben angefasst hatte, beugte sich vor … und blickte auf eine menschliche Hand! DieHaut hatte sich bereits vom Knochen gelöst, die Nägel waren so braun wie die Erde.
Entsetzt wich Marco einen halben Meter zurück, sein Herz stockte. Eine ganze Weile starrte er auf den Arm des Toten, während der Regen langsam dessen Gesicht und Oberkörper freiwusch.
›Wir müssten jetzt ungefähr an der Stelle sein, wo wir das Loch gegraben haben‹, hatte Zola zu seinem Vater gesagt. Marco hatte in diesem Loch gelegen, zusammen mit einem Toten! Er sah nicht zum ersten Mal eine Leiche, aber nie zuvor hatte er eine berührt. Er wusste nicht, was schlimmer war: der Ekel oder das Entsetzen, das den bloßen Gedanken begleitete.
Marco stand auf und überlegte, was er tun sollte. Diese Entdeckung könnte seine Chance sein, Zola zu Fall zu bringen – und endlich frei zu sein. Doch sofort verwarf er den Gedanken wieder: Sein Vater war ja an diesem Verbrechen beteiligt gewesen, zumindest hatte er beim Vergraben der Leiche geholfen.
Während er so dastand und den Gestank schon kaum noch wahrnahm, wurde ihm unerbittlich bewusst, dass er Zola nicht schaden konnte, ohne auch seinen Vater zu treffen. Und er liebte seinen Vater, auch wenn der zu schwach war, um aufzubegehren. Doch, Marco liebte ihn. Und er hatte
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