Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Vater.
Einer der Jungs deutete hinauf zu dem Straßenabschnitt, wo Marco das Auto angehalten hatte, und dann in die Richtung, in die es verschwunden war. Für diese Information bekam er natürlich eine geknallt.
Im nächsten Moment lief die Gruppe geschlossen auf die Stelle zu, wo er lag. Verdammt, er musste hier weg, tiefer in den Wald, irgendwohin, wo es unübersichtlicher war. Vorsichtig richtete er sich auf, sah in der Dunkelheit aber nur die Umrisse der Baumstämme. Er zitterte – vor Kälte und vom Adrenalin, das sein rasendes Herz durch den Körper pumpte. Sein Pyjama war vom Regen inzwischen völlig durchnässt, und die beißende Kälte begann wehzutun. Barfuß wie er war, würde er nicht lange weitergehen können, das merkte er schon nach wenigen Schritten. Jetzt waren sie ihm so dicht auf den Fersen, dass er die Stimmen unterscheiden konnte.
Offenbar waren sie alle da. Hector, Pico, Romeo, Zola, Samuel, sein Vater und die anderen. Sogar einige Frauenstimmen erkannte er.
Erst jetzt setzte die Angst ein.
»Ich hab ihn im Auto nicht gesehen«, sagte Samuel auf Italienisch.
»Das heißt doch nichts, so klein wie der ist«, rief ein anderer auf Englisch.
Wieder war es also Samuel, der gegen ihn hetzte.
Zolas Gebrüll übertönte selbst dieses Stimmengewirr. Er war wütend, weil sie den Jungen hatten laufen lassen, wütend, weil sie nicht wussten, ob er im Auto entkommen war, wütend über die dämlichen Schüsse. Jetzt würden sie ihre Aktivitäten bis auf Weiteres einstellen müssen! Es war nur zu wahrscheinlich, dass der Fahrer zur Polizei ging und den einen oder anderen von ihnen identifizieren konnte. Und wenn dann Ermittlungen in der Nachbarschaft angestellt würden, durften die Kinder nicht im Viertel zu finden sein. Die müssten in den kommenden Tagen alle weggebracht werden, so lange, bis wieder Ruhe eingekehrt war.
Zolas Stimme bebte vor Zorn. »Das wird den Idioten, der geschossen hat, teuer zu stehen kommen. So, und jetzt checkt ihr, ob Marco noch in der Nähe ist, aber dalli«, brüllte er. »Wenner euch noch mal entwischt, schießt. Marco ist zu einer Gefahr für uns alle geworden.«
Marco glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Er hatte sich bislang nie die Frage gestellt, was eigentlich aus denen geworden war, denen es im Laufe der Jahre gelungen war abzuhauen. Hatte Zola sie auch liquidiert, um den Clan zu »schützen«?
Marco zitterte am ganzen Körper. Vorsichtig tastete er sich auf bloßen Füßen voran in den Wald. Zweige, Tannenzapfen und spitze Steine bohrten sich in seine Fußsohlen. Nach hundert Metern war er am Ende, seine Füße brannten wie Feuer, aber er musste weiter.
Wenn ich nicht sofort ein Versteck finde, ist es aus, hämmerte es ohne Unterlass in seinem Kopf. Auf der anderen Seite: Hierbleiben konnte er nicht – der Boden war eiskalt und hart wie Stein.
Er kroch auf allen vieren weiter durchs Unterholz, versuchte dabei, die Schmerzen in den Knien auszublenden. Und nach langem Umherirren spürte er plötzlich, wie der Untergrund etwas nachgab. Erst dachte er, der Boden sei sumpfig an dieser Stelle. Aber er war kaum feucht und fühlte sich anders an als der übrige Waldboden, so als hätte jemand ihn irgendwann einmal umgegraben.
Hastig begann er zu buddeln, und nach einiger Zeit war das Loch groß und tief genug, um ihn aufzunehmen, wenn er sich zusammenkauerte. Mit ausgestreckten Armen scharrte er lose Erde über sich, das Gesicht bedeckte er mit Tannenzweigen.
Jetzt müssen sie schon auf mich drauftreten, um mich zu finden, dachte er, und im selben Moment durchschoss ihn der Gedanke an Zolas Hund.
Schon kurz darauf hörte er das Knacken trockener Äste und die Schritte zahlreicher Füße. Der Boden vibrierte. Sie waren ganz nah. Marco zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Sie verteilten sich im Unterholz und näherten sich langsamseinem Erdloch. Die flackernden Lichtkegel zweier Taschenlampen tanzten wie Leuchtkäfer zwischen den Stämmen.
»Einer bleibt unten an der Straße, damit er uns dort nicht entwischt. Die anderen durchkämmen die ganze Umgebung.« Zolas Stimme kam ihm in der Dunkelheit besonders laut vor. »Nehmt euch Stöcke und stochert damit im Boden herum.«
Marco hörte, wie überall um ihn herum Zweige von den Bäumen gebrochen wurden und sich knackend Schritte näherten. Bei der Vorstellung, wie sie ihn langsam einkreisten und die Stöcke in die Erde stießen, brach ihm der kalte Schweiß aus. Er wusste nicht, wie lange er so gelegen
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