Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
als sie an dem Punkt angekommen war, dass die beiden Afrikaner, die Marco verfolgt hatten, nun Tilde entführt hätten, erstarrten alle drei.
Die Frau, die Rose hieß, bat sie, sich zu setzen, und Mørck legte Marco eine Hand auf die Schulter und drückte sie so liebevoll, wie es auch sein Vater manchmal getan hatte. Dannwandte der Kommissar seine ganze Aufmerksamkeit Tildes Mutter zu.
Marco zitterte. So viele Gedanken rasten in seinem Kopf, so viele Gefühle prasselten gleichzeitig auf ihn ein. Und vor allem, warum waren die Menschen plötzlich so nett zu ihm?
Assad bot an, Tee zu kochen, aber Mørck winkte ab. Er hatte sich Tildes Mutter gegenübergesetzt und ihre Hand genommen. Endlich hatte sie sich ein wenig beruhigt und erzählte nun etwas flüssiger. Rose und Assad standen im Hintergrund und flüsterten.
Hinter Mørck auf dem Bildschirm kommentierte eine Reporterin den heutigen Polizeieinsatz auf dem Rathausplatz, während unten im Bild ein durchlaufendes Textband darüber informierte, dass man eine Diebesbande aus Nordseeland zerschlagen habe, die seit Jahren in Kopenhagen tätig gewesen sei. Es habe zahlreiche Festnahmen gegeben.
Dann wechselte das Bild, und eine der Verhaftungen wurde gezeigt. Mehrere Polizisten überwältigten einen einzelnen jungen Mann, der heftig Widerstand leistete. Pico.
Jetzt wandte sich Mørck mit ernster Miene an Marco. »Darf ich das Handy sehen, Marco, das sie dir hingeworfen haben?«
Es handelte sich um ein simples Nokia-Telefon, das vor fünf, sechs Jahren eines der gängigsten Modelle gewesen war. Marco hatte Hunderte von der Sorte gestohlen.
Er reichte es Mørck, der es gründlich inspizierte. Auf die Rückseite hatte jemand mit Filzstift eine Nummer geschrieben. Vermutlich derjenige, der es geöffnet und auf dem Schwarzmarkt verkauft hatte. Solche Handys konnte man überall in Kopenhagen bekommen, niemand wusste das besser als Marco.
»Ruf doch mal diese Nummer an, Rose«, sagte Mørck und deutete auf die Rückseite. »Vielleicht ist es die Nummer von diesem Handy, vielleicht eine andere, mit Glück sogar die, von der wir einen Anruf erwarten.«
Rose wählte die Nummer, woraufhin das Handy in Mørcks Hand klingelte.
»Okay, damit wäre das klar. Aber check unbedingt die Nummer, von der aus die Entführer angerufen haben. Meines Erachtens sieht das nach einer afrikanischen Vorwahl aus.«
Rose sah kurz auf das Display, dann ging sie.
In den nächsten Minuten hatten sie Tildes Mutter dazu gebracht, etwas ruhiger zu atmen, aber ihre Hände hörten trotzdem nicht auf zu zittern.
»Geht es dir nicht gut, Marco?«, fragte Mørck.
»Hm.« Er nickte.
»Wir werden Tilde da rausholen«, erklärte Mørck mit Nachdruck.
»Das ist die Vorwahl der Elfenbeinküste«, sagte Rose, als sie zurückkam. »Aber ich fürchte, mit der Nummer kommen wir nicht weiter. Die scheint auf keinen Namen registriert zu sein, den es wirklich gibt.«
»Oh Gott«, flüsterte Tildes Mutter.
Im selben Moment vibrierte das Handy in Roses Hand einmal kurz.
»Eine SMS«, sagte sie nach einem Blick auf das Display.
»Was steht drin?«, fragte Mørck.
»Da steht: Pusher Street, Christiania, tonight 8.00 pm – und dann schreiben sie, Marco müsse allein kommen, sonst …«
Sie unterbrach sich, sah Tildes Mutter an und gab dann Marco das Handy.
Ihnen blieben genau fünfundzwanzig Minuten.
42
Für Carl war die Freistadt Christiania altbekanntes Terrain. Keine Gasse, durch die er nicht vor Urzeiten getigert wäre, kein Haus in dieser einzigartigen bunten und anarchistischen Oase, in das er nicht – naiv, wie er war – seine Nase gesteckt hätte, in Uniform, frisch aus der jütländischen Provinz importiert.
Fredens Ark, Loppen, Operaen, Nemoland, Pusher Street, Den Grå Hal, Green Light Distrikt, Sunshine Bakery – alles Namen, mit denen er unweigerlich eine bestimmte Begebenheit verband. Deshalb war Carl in diesem Moment auch nur allzu bewusst, wie wenig aussichtsreich ihre Aufgabe war.
Er war der Freistadt gegenüber zwiegespalten. Aus der Sicht eines Polizeibeamten bot sie Unterschlupf für allerlei Gesindel. Andererseits konnte man dort immerhin noch frei atmen und sich in eine Zeit zurückträumen, als Kopenhagen noch nicht von Yuppies übernommen und dem Mainstream anheimgefallen war. Christiania war und blieb für ihn die Nabelschnur zum alten Charme der Hauptstadt, zu Gedanken, die frei wie die Vögel fliegen konnten. Die Bewohner Christianias, denen es gelungen war, eine hässliche
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