Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
gestern Abend nach Hause kamen, war ich doch da.«
Unwillkürlich wich Carl zurück. Was sagte er da?
Assads Kopf fiel zurück, er schnappte nach Luft und dann zuckte er zusammen, als ob er gerade noch so hatte verhindern können einzuschlafen. Seine Augen waren weit geöffnet, sein Gesichtsausdruck undefinierbar, fast erschrocken, der Mund stand halb offen.
»Du hast zwei Monate lang auf Lars Bjørns Haus aufgepasst? Warum denn das? Und warum habe ich nichts davon gewusst? Woher kennst du ihn überhaupt so gut, dass er dich bittet, auf sein Haus aufzupassen? Und seine Frau, warum war die mit in Kabul, ist sie Krankenschwester oder was?«
Assad presste die Lippen zusammen und ließ den Blick über den Boden tanzen, als suchte er blitzschnell nach einer einigermaßen plausiblen Antwort. Alles an Assad erschien Carl in diesem Moment hochgradig verwunderlich.
Schließlich atmete er ganz tief ein und richtete sich auf. »Ich hatte keine Wohnung, und Lars hat mir geholfen. Wir kennen uns aus dem Nahen Osten, ganz einfach. Nichts Besonderes. Und ja, seine Frau ist Krankenschwester.«
Nichts Besonderes, sagte er. Oh doch, Herrgott noch mal, das war etwas ganz und gar Besonderes.
»Ihr kennt euch aus dem Nahen Osten?«
»Ja. Wir sind uns zufällig schon mal begegnet, bevor ich nach Dänemark kam. Ich glaube, er war derjenige, der mir geraten hatte, hier um Asyl zu bitten.«
Carl nickte. Dass sein Assistent Geheimnisse hatte, war ihm schon seit einiger Zeit klar. Gut möglich, dass Assad in seinemgegenwärtigen Zustand ein paar davon preisgeben würde. Aber dass er ein Wort wie ›zufällig‹ benutzte und ernsthaft glauben konnte, Carl damit zufriedenzustellen, das war eine glatte Beleidigung.
Genau in dem Augenblick, als Carl seine womöglich am wenigsten sympathische Seite hervorkehren wollte, begegnete sein wütender Blick dem Assads.
Selten hatte er Assad so hellwach erlebt. Selten hatten die braunen Augen so intensiv und eindringlich geblickt. Aus heiterem Himmel saßen sie sich mit der Distanz von Fremden gegenüber, zwischen ihnen all das Misstrauen und all das Unausgesprochene von Monaten. Ein Moment, in dem alle Fragen und Diskussionen nur noch stumm geführt wurden.
Willst du mich nicht in Ruhe lassen, Carl? Ich bin doch wieder da, reicht das nicht?, bettelten die braunen Augen.
Carl stand auf und klopfte Assad auf die Schulter. »Na ja, wir raufen uns schon wieder zusammen, altes Haus.«
»Altes Haus?« Assad klang etwas kleinlaut.
»Ja, Assad. Diesmal weiß ich aber auch nicht, woher der Ausdruck stammt.«
Höchste Zeit, dass er ein bisschen Aufmunterung bekommt, dachte Carl und peilte Roses Terrain an. Eine Portion Rose-Schrägheit brachte Assad für gewöhnlich zum Lachen.
Trotz halb geschlossener Tür und des massiven Geräuschangriffs durch die Bohrmaschine des Zimmermanns war es schwierig, die Stimmen hinter Roses Tür zu überhören.
»Schieb ab, Gordon. Meine Tür ist für dich zu, okay?«
»Ich sag ja nur …«
Carl schüttelte den Kopf. Da brach einem die Hütte über dem Kopf zusammen, und dieser lange Fettuccine wagte es, Carls zweitengste Mitarbeiterin anzubaggern. Auf seinem Terrain!
Er legte die Hand auf die Türklinke und wollte ihm gerade eins vor den Latz ballern, als er hörte, wie diese Lachnummer von Männlein da drinnen die Schraube noch einmal anzog.
»Rose, ich tue alles für dich, wirklich alles. Sag mir, was du brauchst, und ich bin da.«
»Dann falte dich in der Mitte zusammen und rolle ein bisschen auf der Autobahn herum. Oder biete dich als Pontonbrücke über den Titicacasee an.«
Okay. Rose brauchte seinen Beistand nicht. Sie war durch die Sprachschule des Sonderdezernats Q gegangen, das genügte.
Da der Wortschwall des Langen abrupt abriss, konnte man davon ausgehen, dass er die Botschaft verstanden hatte.
Doch dann hörte Carl, wie das Bürschchen sich räusperte. »Egal, was du sagst, Rose, du bist einfach so unfassbar schön, dass einem die Tränen in die Augen treten.«
Carl fielen beinahe die Ohren ab. Was war denn das für ein unfassbares Geschmalze? Hatte inzwischen das ganze Haus eine Vollmeise?
5
Herbst 2010
Marco war klar, dass er sich einen Platz zum Schlafen, Schuhe und etwas Trockenes zum Anziehen suchen musste, wenn er in der eisigen Novembernacht nicht erfrieren wollte. Seine Verfolger waren nach Hause zurückgekehrt, aber es war sehr gut möglich, dass irgendwo am Waldrand noch jemand Wache stand.
Ein ganzes Stück vom Wald entfernt,
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