Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
die Vertrautheit der Gegend trügerisch war – die kleinste Unaufmerksamkeit genügte, und Zola und seine Leute hätten ihn.
Das Zentrum war eine einzige Baustelle. Die Gerüste rund um das Haus der Industrie, an der Fassade des Hotel Palace und des Zeitungsverlags Politiken, die Gitter um die Baustelle der Metro – überall wurde vergrößert, verschönert oder ausgebessert. Aufgerissene Straßen, Bauwagen, Stahlmatten und Berge von verwittertem Beton.
Auf sein neues Leben stieß Marco noch am selben Tag im Stadtteil Østerbro: Nachdem er eine ganze Weile inmitten des lärmenden Verkehrs auf dem Trianglen-Platz gestanden und die eilig in alle Richtungen strebenden Menschen beobachtet hatte, fragte er sich mal wieder, wo er schlafen sollte.
Doch irgendwie fühlte Marco sich inmitten des geschäftigen Treibens gar nicht so fremd. War es nicht das, was er kannte? Er war zwar hungrig und fror, hatte kein Geld und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Aber die Frauen an der Bushaltestelle hatten ihre Taschen doch einladend über die Schultern gehängt, und die Männer am Kiosk ließen ihre Aktentaschen geradezu achtlos zu ihren Füßen stehen, während sie bezahlten.
Mit kleineren Taschendiebstählen könnte er locker in einer halben Stunde einen ganzen Tageslohn einnehmen. Aber wollte er das? Und wenn er es nicht wollte – hatte er eine Alternative?
Nach kurzem Überlegen setzte er sich an der Säule des BT-Kiosks auf den Gehweg. Kaum hatte er eine Hand zum Betteln ausgestreckt, landete eine dicke Schneeflocke darauf.Erst eine, dann noch eine, dann immer mehr. Und plötzlich schauten alle Menschen, die auf der Straße waren, hinauf zum Himmel. Manche lächelten, andere zogen den Mantelkragen enger, und als mit einem Mal ein richtiges Schneegestöber einsetzte, pressten die Frauen ihre Taschen an sich, und die Männer hoben ihre Aktentaschen auf.
Hier konnte er nicht sitzen bleiben, und wenn er unter dem Dach der Haltestelle bettelte, würde man ihn in null Komma nichts verscheuchen. Er kannte sich aus und wusste, dass ein Bettler seinem Gegenüber nie zu nahe kommen durfte, das mochten die Leute nicht.
Schon nach wenigen Minuten waren die Straßen wie leer gefegt: Der Schnee hatte sie alle überrascht, und kaum einer war passend gekleidet. Marco schon gar nicht.
Was nun?
Er scannte die neue Umgebung. Die Scheibenwischer der Busse liefen auf Hochtouren, Radfahrer stiegen ab und schoben ihre Räder auf den Gehwegen. Eben noch trockene Platten waren voller Schneematsch, und hinter den Schaufensterscheiben wimmelte es auf einmal vor Leben. Menschen strebten in die Cafés auf der Suche nach Wärme. Und er stand immer noch hier.
Wo sollte er hin?
Er presste die blau gefrorenen Lippen zusammen. Da sah er eine Frau, die sich vom Blegdamsvej näherte und sicher hier am Fußgängerüberweg warten würde, denn ihr Blick war bereits fest auf den 7-Eleven-Kiosk auf der anderen Seite der Østerbrogade gerichtet.
Eine Lehrerin, vermutete er. Gewohnt zu bestimmen, entschlossener Blick, schwere Schultertasche, halb offen und abgegriffen nach jahrelangem Gebrauch. Keine billige Tasche, ausgewählt mit der Vorgabe, dass sie vielseitig sein und ewig halten musste. In die Tiefen solcher Taschen hatte Marco seine Hand schon zigmal gesteckt. Er wusste, dass die Geldbörse fastimmer an der Seite steckte. Gab es eine kleine Innentasche, befand sie sich darin.
Er ging an den haltenden Bussen vorbei zur Ampel und wartete dort.
Als die Frau sich neben ihn stellte, dauerte es nur eine Sekunde, bis er die Falte in der Tasche gefunden hatte, wo der Geldbeutel steckte. Ganz still stand er neben ihr, bis sie selbst sich bewegte, und erst da streckte er seine Hand vor. Wenn die Tasche dann herunterrutschte, würde die Frau höchstens einen kleinen Schlag gegen den Schenkel spüren, aber ihre Aufmerksamkeit war auf anderes gerichtet.
Eine weitere Sekunde, und die Geldbörse steckte in Marcos Ärmel. Doch er fühlte sich sonderbar. Normalerweise würde er sich jetzt blitzschnell umschauen, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtet hatte, und sich dann aus dem Staub machen.
Aber plötzlich war da wieder dieses Gefühl von Scham, das ihn jetzt vollständig lähmte.
Vor diesem Gefühl hatte Zola sie immer wieder gewarnt. Ihr wisst, dass die Menschen ohnehin nur Schlechtes von euch erwarten, hatte er gesagt. »Zigeuner« haben keinen guten Ruf, sie gelten als unzuverlässig und falsch. Also schämt euch besser erst gar nicht.
Weitere Kostenlose Bücher