Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
auf der anderen Seite der Landstraße, befanden sich die nächstgelegenen Häuser und ein paar Höfe. Aber wie sollte er die Straße überqueren, ohne entdeckt zu werden, falls das Terrain noch überwacht wurde?
Marco wusste, dass die nächsten Stunden entscheidend waren. Wenn er nicht schnell von hier wegkäme, würden sie ihn binnen kürzester Zeit finden. Doch durch den Wald konnte er sich nicht schlagen, das machten seine Füße nicht mit. Es blieb ihm also gar nichts anderes übrig: Er musste über die Straße.
In Italien hatten sie als Kinder gern Verstecken gespielt. Gewonnen hatte der, dem es gelang, unbemerkt aus seinem Schlupfloch zu rennen und gegen eine Dose zu treten. Niemand beherrschte dieses Spiel so gut wie Marco. Am besten, er malte sich jetzt aus, er läge an einem dieser schönen sonnigen Tage in Umbrien im Wald und wartete auf freie Bahn zur Blechdose.
Er stellte sich vor, dass die Dose auf einem der Höfe hinter den Feldern stand. Nun galt es, geduckt bis oben zum Hügel zu gelangen, um dann wie ein Wiesel loszuspurten. Denk einfach an die Blechdose, beschwor er sich immer wieder, dann wird es schon klappen.
Damit er sehen konnte, ob die Luft rein war, wartete er, bis das Scheinwerferlicht eines Autos die Landschaft erhellte. Fünfzig Meter entfernt hügelabwärts wurde die Silhouette eines Mannes sichtbar. Wer es war, konnte Marco nicht erkennen. Aber offensichtlich bereitete die Kälte dem Typen die gleichen Probleme wie ihm, denn er stand völlig zusammengekrümmt da, die Arme um den Leib geschlungen.
So ein Scheiß!
Trotzdem: Seine einzige Chance war die Straße – er musste eben ganz flach rüberkriechen und hoffen, dass die Dunkelheit ihn schützte. Aber wie sollte das gehen mit einem Schlafanzug, der wie eine Signalrakete leuchtete? Zumal er es auf der anderen Straßenseite auch noch mindestens zweihundert Meter über einen Acker schaffen musste. Er spähte über die Felder. Und wer wusste, was ihn drüben bei den Höfen erwartete? Womöglich hatte Zola dort ebenfalls jemanden postiert.
Marco wartete, bis dichtere Wolken den Mond verdeckten. Mit etwas Glück war er in zehn Sekunden im Straßengraben auf der anderen Seite.
Er drückte sich auf den Boden und schob sich vorsichtig vorwärts. Die Straße war einfach unberechenbar: Sobald der Mond durch die Wolkendecke lugte, brachte er den feuchten Asphalt zum Glänzen und zeichnete alle Konturen scharf. Deshalb ließ Marco die Gestalt keine Sekunde aus den Augen, als er sich auf die Fahrbahn schob. Er musste jederzeit zum Sprint bereit sein.
Da hörte er das tiefe Brummen eines Fahrzeugs, das sich von der anderen Seite des Hügels näherte. Zolas Wachposten musste es gleichzeitig vernommen haben, denn er zog sich einen Schritt von der Straße zurück – und drehte sich dabei ausgerechnet in Marcos Richtung.
Der erstarrte in seiner Bewegung und blieb liegen, wo er war: mitten auf der Fahrbahn. Die war kalt wie Eis, und sein Herz klopfte wie die Schlägel einer Dreschmaschine.
Jeden Moment würden die Scheinwerfer die Fahrbahn ausleuchten– und dann war es zu spät. Dann würde es höchstens noch zehn Sekunden dauern, bis das Fahrzeug ihn überrollte. Wahrscheinlich ein Lastwagen, so wie es dröhnte. Der Mann hügelabwärts hielt den Blick stur in seine Richtung gewandt.
Marco spürte, wie der Untergrund immer stärker vibrierte, und kniff die Augen zu. Vielleicht war’s das jetzt. Nur eine Sekunde, dachte er, und alles ist vorbei.
Und während die Erschütterungen der Straße und der Lärm des Dieselmotors immer mehr zunahmen, fiel es ihm plötzlich ganz leicht, sich seinem Schicksal zu ergeben. Wo seine Mutter jetzt wohl sein mochte? Wie es wohl gewesen wäre, mit ihr zusammen zu fliehen, solange noch Zeit dazu war? In wenigen Sekunden würde von Marco gerade noch so viel übrig sein, dass sich die Krähen am nächsten Tag nicht um ihre Mahlzeit sorgen müssten. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er wohl niemals jemandem etwas bedeutet hatte.
Das Licht der Scheinwerfer schob sich über den Hügelkamm und kam unaufhaltsam näher. In diesem Moment schlug in der Senke ein Hund an, bestimmt Zolas Köter.
Marco öffnete die Augen, und als sich der Lichtkegel nun in voller Stärke durch die Dunkelheit fraß, sah er, dass sich der Aufpasser unten auf das Bellen des Hundes hin in dessen Richtung gedreht hatte.
Während der Fahrer mit dem Handy am Ohr auf Marco zuhielt, richtete der sich reflexhaft
Weitere Kostenlose Bücher