Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
auf und stieß sich mit letzter Kraft vom Asphalt ab. Die Druckwelle des vorbeirasenden Lasters schleuderte ihn Hals über Kopf in den Straßengraben.
Ihm tat alles weh, sein Atem ging pfeifend, sein Schlafanzug stank bestialisch nach dem gülligen Wasser des Grabens, und trotzdem bebte er vor unterdrücktem Gelächter. Vielleicht würde der Hund in wenigen Minuten seine Fährte aufnehmen, und dann wäre die Jagd bald vorbei. Aber dieser Augenblick gehörte ihm. Es war ihm gelungen, die Straße zu überqueren.
Und noch während er vorsichtig durch die Landschaft huschte, lachte er. Die Rufe in der Ferne wurden immer schwächer.
Der Holzschuppen am Rande des Hofs war mit einem einfachen Vorhängeschloss versehen. Maßlos verlockend und leicht zugänglich. Ein Geschenk in dieser dunklen Nacht, die bereits einen Vorgeschmack auf den kommenden Winter gab.
Zähneklappernd stand Marco auf dem Hof und sah zu den dunklen Fenstern des Wohnhauses hinauf. Nichts war zu hören außer dem Wind. Im Nu hatte er das Schloss geknackt und sich unter ein paar alten Leinensäcken zusammengerollt. Er schlief sofort ein, der Geruch nach Katzenpisse und Harz und die Holzsplitter im Boden störten ihn nicht.
Noch vor Sonnenaufgang weckten ihn die Stimmen der Bewohner. Echtes Familienleben – und so ganz anders als der Ton und die Atmosphäre in Zolas Clan. Wieder fühlte er sich mutterseelenallein, und plötzlich spürte er so etwas wie Neid und sogar Hass auf die Familie da drüben. Aber was konnten die schon für Marcos beschissenes Leben? Und woher wollte er wissen, ob sein Vater und vielleicht sogar Zola ihn nicht auch mal geliebt hatten?
Er wischte sich über die Augen. Eines Tages würde er selbst eine Familie haben, Menschen, bei denen er sich ganz sicher sein konnte, was sie für ihn empfanden.
Er wartete eine gefühlte Ewigkeit, bis die Bewohner des Hauses endlich abfuhren. Vielleicht, um die samstäglichen Einkäufe zu tätigen, vielleicht, um die Kinder zu ihren jeweiligen Freizeitaktivitäten zu kutschieren. Dinge, von denen er selbst immer nur hatte träumen können.
Er lief hinüber zum Haus, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand da war, nahm er einen Stein, der ihm schwer genug erschien. Ein rascher Schlag gegen die Scheibe der rückwärtigen Tür reichte, und schon stand er in jener heimeligen Wohlstandsatmosphäre, die die meisten Dänen alsselbstverständlich erachteten. Für einen Augenblick blieb er stehen und atmete tief ein: lauter Gerüche, die er seit so langer Zeit schon vermisste, eine Mischung aus Morgentoilette, Parfüm, dem gestrigen Essen und dem scharfen Aroma von neuen Holzmöbeln und Reinigungsmitteln.
Durch einen Spalt im Tor des Schuppens hatte er Vater, Mutter, Tochter und Sohn beobachtet, wie sie im Auto Platz nahmen. Sie hatten so vertraut gewirkt mit dem, was sie umgab, dass er ihren Besitz mit einem gewissen, bislang nicht gekannten Respekt betrachtete. Nein, er wollte ihre intakte Welt nicht erschüttern, er wusste selbst, wie schnell man den Boden unter den Füßen verlor. Er würde nur das stehlen, was er unbedingt brauchte.
Und dazu noch ein Buch, das auf dem Esstisch lag.
Rechts neben dem Holzschuppen fand er die Mülltonne. Er hob ein paar Abfallsäcke hoch und warf seinen zerrissenen Schlafanzug darunter. Alles, was an seine Vergangenheit erinnerte, musste verschwinden.
Ein altes Fahrrad im Schuppen reizte ihn, aber er zögerte. Nein, zu auffällig. Ihm war bewusst, wie sehr er aufpassen musste: keine Landstraßen, keine Bushaltestellen, keine S-Bahn. Alles, was geeignet war, ihn schnell von seinen Verfolgern wegzubringen, kam nicht in Frage. Auch das Fahrrad nicht.
Eingehüllt in fremd riechende, warme Kleidung, mit etwas zu großen Schuhen, dem Buch und einem Brot unter dem Pullover und den Taschen voller Wurst und Aufschnitt schlich er davon.
In den nächsten vier Tagen seiner Flucht lernte Marco Orte kennen, deren Namen er noch nie gehört hatte, Strø, Lystrup und Bastrup. Im Zickzackkurs und im Schutz von Hecken und Wäldern näherte er sich Kopenhagen. Als seine Vorräte aufgebraucht waren, bediente er sich aus den Müllcontainernder Überflussgesellschaft. Was die Leute alles wegwarfen! Für Marco war es ein Segen.
Sein Timing war perfekt. Er erreichte den Rathausplatz am späten Nachmittag, da waren Zolas Leute für gewöhnlich schon auf dem Heimweg.
Vor ihm lagen die Gassen des Stadtzentrums, die er kannte wie seine Westentasche. Aber er wusste, dass
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