Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Schließfach war?«, schaltete Carl sich ein. »Irgendetwas von Wert muss es doch gewesen sein, sonst hat man so was doch nicht.«
»Ja. Malene Kristoffersen sagte, er hätte dort ein paar Disketten, CD-ROMs und Schmuck aufbewahrt, unter anderem die Trauringe seiner Eltern. Aber dann hat er irgendwann alles mit nach Hause genommen. Er hat sich den Inhalt der Disketten auf dem Computer angesehen und dann alles gelöscht.«
»Okay? Wissen wir, was da drauf war?«
»Seine Dissertation.«
»Er wollte seinen Doktor machen?«
»Offenbar, aber so weit kam es nicht. Er hat die Diss nie eingereicht.«
»Das klingt verrückt. Warum hat er sein Material vernichtet?«
»Vielleicht aus demselben Grund, weshalb du den Titel des Vizepolizeikommissars nicht gegen den des Polizeikommissars eintauschen willst.«
Carl sah Assad an. Was zum Teufel sollte das denn heißen?
»Und warum will ich das nicht, Assad?«
»Weil du es dann plötzlich mit einer anderen Art von Arbeit zu tun hättest, Carl.« Er lächelte. »Du hast doch keine Lust, Polizeipräsident in irgendeinem Provinzkaff zu werden, oder?«
Na okay, da hatte Assad natürlich recht. Eher Kamele züchten in der Sahara.
»Du meinst also, er hat Abstand genommen von dem Projekt, weil er Angst vor einer Beförderung hatte? Hat Malene Kristoffersen das gesagt?«
»Sie sagte, er sei zufrieden gewesen mit seiner Situation, er fand es gut so, wie es war. Er sei kein Typ gewesen, der potzte.«
»Protzte, Assad. Du meinst, er sei kein Prahlhans gewesen,oder? Aber warum ist er dann überhaupt erst in die Forschung gegangen und hat angefangen zu schreiben?«
»Malene Kristoffersen zufolge hat seine Mutter das gewollt, denn sein Vater ist auch promoviert gewesen. Aber als sie starb, hat er das Projekt wohl ganz schnell fallen lassen.«
Carl nickte. Das Bild von William Stark wurde immer stimmiger. Und der Mann gefiel ihm immer besser.
»Worum ging es in der Dissertation, weißt du das?«
Assad blätterte. »Malene Kristoffersen konnte sich nicht richtig erinnern, aber es war irgendetwas mit der Einrichtung von Fonds in internationalen Zusammenhängen.«
»Mein Gott, das klingt ja unterhaltsam.«
Carl ging vor dem Tresor in die Hocke und schaute hinein. Tatsächlich: vollständig leer.
Anschließend machten sie noch einen Abstecher in den Keller, aber auch dort fiel ihnen nichts auf.
Als sie fast fertig waren mit ihrer Rundtour, ließ Carl seinen Blick noch einmal aufmerksam über die Wände und die Zimmerdecke wandern, auf der Suche nach irgendwelchen Unregelmäßigkeiten, und seien sie noch so minimal. Aber alles sah ordentlich und unauffällig aus. Für seinen Geschmack zu unauffällig.
Wenn erst einmal so viel Zeit vergangen war, war es nie leicht, in die Materie einzusteigen. Vielleicht hatte Malene Kristoffersen zu gründlich aufgeräumt, vielleicht war ein entscheidendes Blatt Papier im Mülleimer verschwunden – oder in den Taschen der Diebe. Gut möglich, dass es seinerzeit Spuren gegeben hatte, aber die waren von der Zeit sicher längst ausgelöscht worden.
»Hm. Dann sind wir jetzt wohl fertig. Sonderlich ergiebig war’s ja nicht. Aber wo wir gerade hier sind, können wir ja noch mal die Nachbarin nach den Einbrechern befragen. Soweit ich sehe, wurschtelt sie wieder in ihrem Garten herum.«
Er sah hinüber zu der Frau, die vor dem Nachbarhaus nebeneinem Pflanzkasten hockte. Dabei fiel ihm der Junge auf dem Bürgersteig gegenüber auf. Er sah etwas verwahrlost aus und starrte zu ihnen herüber. Aber nicht das Starren an sich war es, das Carl stutzig machte, sondern vielmehr das, was in diesem Blickkontakt mitschwang, der für den Bruchteil einer Sekunde zwischen ihnen entstand. Es war wie der Blickwechsel zwischen einem Angeklagten und seinem Richter. Als wäre dem Jungen schlagartig bewusst geworden, dass er einem Feind in die Augen schaute.
Im nächsten Moment senkte der Junge den Blick, wandte sich ab und rannte Hals über Kopf davon.
Merkwürdig, als hätte er sich irgendwie ertappt gefühlt, dachte Carl.
»Habt ihr den Jungen gesehen?«, fragte er, aber Rose und Assad schüttelten den Kopf.
»Der schien nicht sonderlich erfreut, uns hier drinnen zu sehen.«
15
Als Marco nach einer guten Stunde zu William Starks Haus zurückkehrte, stellte er erleichtert fest, dass sowohl die Nachbarin aus ihrem Vorgarten als auch der Polizeiwagen verschwunden waren.
Den Blick auf die Haustür gerichtet, ging er seelenruhig den Gartenweg hinauf, und als er
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