Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern (German Edition)
Minkwitz verschleppten Frauen, darunter auch Ilse
Kassel, ihre Mutter und meine Großmutter, in den Räumen seiner Kirche in Zeitz
unterkommen konnten. Die, die er nicht mehr aus den Klauen der Gestapo befreien
konnte, kamen in die Lager nach Halle und Berlin oder gleich nach Theresienstadt.
Die längst zerborstenen Glasscheiben der verwitterten hellgrünen
Holztür sind mit Pappe vernagelt. Ich gehe die Stufen zum Eingang hoch und
versuche, durch das Schlüsselloch etwas zu erkennen. Ich sehe eine kleine
Treppe und einen Flur. Meine Großmutter ist durch diese Eingangstür gegangen,
die Treppe hoch und dann durch diesen Flur.
Ilse Kassel kann sich nicht mehr erinnern, wie sie damals von
Minkwitz hierhin gekommen sind, aber in der »Chronik der Diasporapfarrei Zeitz«
lesen wir später, dass »am Abend vor dem Allerheiligenfeste 1944 32 Frauen und
Mädchen in Lastwagen hier ankamen und sich im Erdgeschoß der Schule
einrichteten.«
Wir gehen um das Haus herum. Im Hochparterre reihen sich vier
Fenster aneinander, zwei davon mit Eisenplatten versperrt, eines mit einer
hellen Holzplatte, das vierte ist zugemauert. Vor dem Haus ein Wiesenstück,
eingefasst von einem hohen Drahtzaun. »Früher war hier eine hohe Mauer, und die
Wiese war ein Hof. Da durften wir uns aufhalten, aber es war ja viel zu kalt.
Hinter den Fenstern waren die zwei Zimmer, in denen wir untergebracht waren«,
sagt Ilse. »Es war sehr eng, und wir schliefen in durchgelegenen Hochbetten.
Die Tür dort führte in den Garten des Pfarrhauses. Wenn sie aufging, wussten
wir, dass wir Hilfe und Trost bekommen würden. Pfarrer Wittelsbach hat wirklich
alles versucht, um uns das Leben zu erleichtern.«
Auch seine Haushälterin tat, was sie konnte. Auf alle Fälle mehr,
als sie durfte: Sie öffnete Ilse die Tür ins Pfarrhaus und ließ sie mit einer
Freundin telefonieren, die im Fernmeldeamt Krefeld arbeitete und ihren
Aufenthaltsort herausgefunden hatte.
Ich habe die Briefe, die meine Großmutter aus Zeitz an meinen Vater
geschrieben hat, mitgenommen und hole den vom 28. November 1944 aus der Tasche:
Wie sich mein Leben hier abspielt, wirst du ja aus Wuppertal
erfahren haben. Leider dürfen wir jetzt nur noch alle vierzehn Tage schreiben
und auch nur in dieser Zeit Briefe empfangen, die beiderseits durch die Zensur
gehen müssen. Im Winter ist das Lagerleben auch insofern weniger erfreulich,
weil man durch die früher eintretende Dunkelheit weniger unternehmen kann, sei
es durch Handarbeiten, Schreiben oder Lesen, da man durch die ziemlich hoch
angebrachten Lampen kein günstiges Licht erhält … Indem ich Dich noch bitte,
gelegentlich die kleine Hun vielmals von mir zu grüßen, verbleibe ich mit vielen
guten Wünschen und Grüßen stets Deine halbe Portion.
Ich stelle mir meine Großmutter hinter diesen Fenstern vor
und bin sehr bedrückt. Gleichzeitig spüre ich, wie neben mir Ilse das Herz
schwer geworden ist. »Früh am Morgen wurden wir von einer mit Gewehren
bewaffneten Truppe zur Arbeit in die Oberstadt gebracht«, sagt sie, »zur Werner-Gerhardt-Schule am Steinsgraben, wo die ›Organisation Todt‹ stationiert war.«
Dann zeigt Ilse mir den Weg, den sie jeden Morgen mit den anderen
Frauen gegangen ist. Ilse geht diesen Weg sehr langsam und ihr Gesicht sagt
mir, dass es für sie nun Schritt für Schritt in die Vergangenheit geht.
Abbildung 23
Als wir die Messerschmiedestraße erreichen mit ihren
Katzenköpfen, jenem buckeligen Kopfsteinpflaster aus Blaubasalt, das mit seinen
unregelmäßigen Fugen das Tausendjährige Reich und die DDR überdauert hat, bleibe ich stehen und lese Ilse vor, was meine Großmutter am
19. Januar 1945 geschrieben hat:
Mein lieber, guter Junge, für Deine lieben Zeilen danke ich
Dir vielmals. Du wirst es schon ermessen können, was es für mich bedeutet, von
Dir zu hören. Wie Du wohl schon erfahren hast, habe ich mich im Großen und
Ganzen den Verhältnissen angepasst, zumal ich mit 3 unserer Damen einen netten
Kreis gefunden habe. Was weniger schön ist, daß ich mir meinen rechten Fuß durchgetreten
habe, da das Zeitzer Pflaster derart holprig ist, daß man wie auf Nadeln geht!
Der Weg vom Lager zur Arbeitsstätte beträgt eine Viertelstunde, und frühmorgens
um halb 6 Uhr sowie auch abends sieht man in der Dunkelheit nicht, wo man hintritt,
und so ist das Malheur entstanden. Du kannst Dir denken, daß diese körperliche
Behinderung, ich muß stark humpeln, nicht günstig auf meine Stimmung
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