Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern (German Edition)
wirkt,
doch gebe ich mir die allergrößte Mühe, mich nicht unterkriegen zu lassen. Bist
Du mit mir zufrieden?
Ich gehe neben Ilse die steile Straße hoch, mache
Aufnahmen von dem Kopfsteinpflaster und den alten Häusern und denke: Was die
Menschen hinter diesen Fenstern wohl damals gedacht haben, als sie Morgen für
Morgen diese bewachte Frauen-Kolonne an ihren Häusern vorbeiziehen sahen?
Und vor allem – was hat meine Großmutter gedacht und gefühlt? Wie
verloren ist sie sich vorgekommen? Wie viel Angst hat sie gehabt? Für einen
Moment ist es so, als gingen wir diesen Weg gemeinsam. Für einen Moment scheint
es mir, dass ich ihr dadurch noch nachträglich etwas abnehmen, auf mich nehmen
kann. Dass ich für sie da bin. Damals aber hatte meine Großmutter meinen
Großvater an ihrer Seite. Zum Glück. Er konnte sie zumindest ein paar Mal in
Minkwitz und Zeitz besuchen, und ohne ihn wäre sie wohl an ihrem Schicksal
verzweifelt.
Seinen Brief Nr. 56 vom 3. Januar 1945 lese ich heute noch im tiefen
Respekt vor diesem Mann, der seine Frau entgegen allen Forderungen der Zeit
einfach nicht aufgeben wollte:
Seit Freitag bin ich wieder in Wuppertal. Meinen Brief aus Zeitz
wirst Du inzwischen erhalten haben. Was ich nicht geschrieben habe, ist mein
Erschrecken gewesen, als ich bei meiner Ankunft die halbe Portion in nur
wenigen Wochen stark gealtert vorfand. Das Gesicht drückte Angst und Sorge aus.
Bei meiner Abreise verließ ich eine ganz andere halbe Portion. Sie hat jetzt
einen, wenigstens bei der OT , sicheren
Halt an dem Lagerführer, mit dem ich immer wieder über die halbe Portion gesprochen
habe. Die halbe Portion ist ermächtigt, was sonst verboten ist, sich
unmittelbar an den Lagerführer zu wenden, wenn sie sich nicht stark
genug fühlt, den Dienst und vor allem den langen und steilen Weg zur
Arbeitsstätte zu machen. Auf keinen Fall kommt eine Zurverfügungstellung in
Frage.
Ilse und ich sind an der damaligen Werner-Gerhardt-Schule angekommen und gehen um das riesige Haus herum, um irgendwo durch die dichten
Büsche hindurch einen Blick über die Mauer in den Garten werfen zu können.
»Da ist die Küche«, ruft Ilse und zeigt auf die Reste einer Baracke,
in deren vorderem Teil noch weiße Kacheln zu erkennen sind.
»Das war damals schon so ein provisorischer Bau, wo wir zusammen mit
russischen Frauen meistens Kartoffeln schälen mussten, die wir aus dem
eiskalten Wasser fischten. Dabei saßen wir auf Kartoffelsäcken, und es hat
immer so gezogen von hinten, denn das Ganze war damals schon nur ein Rohbau und
hatte gar keine Türen.« Ilse schüttelt den Kopf. Kaum zu fassen, dass alles
noch genauso aussieht wie damals. Jeder Stein könnte erzählen, wie es war. Aber
Steine reden nicht.
Ein paar Stunden später sind wir in Minkwitz. Auch in Minkwitz war
ich noch nie. Ilse ist hier allerdings schon einmal gewesen. Damals, im Herbst
1944. Wieder stehen wir vor einem verfallenen Haus. Es ist das alte Wirtshaus
gleich an der Hauptstraße. Im September 1944 trifft man sich hier zum Bier.
Trotz des Krieges. Trotz der Ostfront. Und trotz der 160 Mädchen und Frauen,
die im Hinterhaus auf dem Tanzboden zusammengepfercht sind. »Die Judenfrauen«.
So heißen sie im Dorf. Bewacht von Männern der »Organisation Todt«. Der Wirt
Max Meinhardt, selbst kein Nazi, war gezwungen worden, die jüdischen Frauen
unterzubringen.
Abbildung 24
Die Fenster des ehemaligen Tanzsaales stehen jetzt offen. Efeu wuchert
hinein. Zwei Säulenreihen teilen den Raum bis zur kleinen Bühne. Ich drehe mich
um. Ilse kommt zögernd durch die Tür. Sie macht ein paar Schritte über den
Schutt, mit dem hier alles übersät ist. Und zeigt auf eine Stelle rechts neben der
Bühne. »Da«, sagt sie, »da haben wir gelegen. Meine Mutter und ich. Genau da.«
Und, nach einer Pause: »Auf Strohsäcken. Und unsere Schlafsäcke hatten vorher
schon andere benutzt.«
Ilse kommt mir auf einmal so klein vor. Viel kleiner, als sie in
Wirklichkeit ist. Ich lege den Arm um sie, drücke sie an mich und fühle mich
dabei doch schlecht, sehr schlecht, weil ich sie hierhergebracht habe.
»Das Essen kam aus einer Gulaschkanone. Die hygienischen Verhältnisse
waren eine Katastrophe. Ich hatte Flöhe, meine Mutter hatte Kopfläuse, es war
furchtbar.«
Ich habe das Gefühl, dass Ilse jetzt lieber alleine sein möchte, und
gehe hinaus.
Als wir abends wieder in der Gaststube sitzen, merke ich, wie sich
die Anspannung bei ihr nur langsam
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