Erzaehl es niemandem
Darre
muss sie noch warten, bis die Kühe fertig gemolken sind. Die Haushälterin Anna
bittet sie, so lange im Wohnzimmer Platz zu nehmen. »So, ihr seid wieder auf
der Hütte? Diese Ostertage sind doch immer wieder herrlich. Bei diesem schönen
Wetter habt ihr sicherlich viel Besuch gehabt.«
Bald kommen die Mägde mit der Milch und Anna sagt, sie könne fünf
Liter bekommen. Sie helfen Lillian, die Kannen im Rucksack unterzubringen.
»Es ist zwar ein bisschen schwer, aber ich schaffe das schon.«
Kurz darauf fährt Lillian in weiten Schwüngen den Hang hinunter, der
am See endet. Einen Augenblick bleibt sie stehen, betrachtet den sternenklaren
Himmel und das Nordlicht, das heute in vielen Grün- und Gelbtönen leuchtet. Wie
wunderbar der Abend ist, denkt sie, und plötzlich ist dieser Deutsche in ihren
Gedanken. Auch am Nachmittag war das schon so gewesen. Wollte sie ihn wirklich
wiedersehen? Warum ist sie seit diesem Besuch so unruhig?
Abbildung 14
Da wird die Stille vom Knirschen des Schnees unterbrochen. Zwei
Männer laufen an ihr vorbei, drehen sich um und sperren die Loipe mit ihren
Skistöcken. Es sind Teschner und der Mann, an den sie eben gedacht hat. Lillian
tut so, als ob sie sie nicht erkennt. Weder den einen, noch den anderen. Die beiden
Männer nehmen ihre Mützen ab, und Teschner fragt überrascht: »Verzeihung –
kennen Sie uns nicht mehr? Wir waren doch heute Vormittag auf Ihrer Hütte. Sie
sind Lillian, nicht wahr? Wir wohnen hier oben in einer Wachhütte, und als Ihr
Vater erwähnte, dass Sie am Abend die Milch abholen sollten, haben wir hier auf
Sie gewartet, weil wir Sie fragen wollten, ob Sie nicht doch morgen mitkommen wollen,
wenn wir mit Ihrem Vater den Ausflug machen.«
Was soll sie antworten, sie sucht nach den richtigen Worten. »Es ist
nicht leicht für mich, man sieht es nicht gerne, wenn sich Mädchen mit
Deutschen zusammen zeigen. Ihnen sollen die Haare abgeschnitten werden, wenn
der Krieg vorbei ist.«
Der andere, der neben Teschner steht, bekommt auf einmal einen
merkwürdigen Gesichtsausdruck, Lillian kann es deutlich im Mondlicht sehen.
»Ich kann nicht glauben, dass norwegische Männer so etwas machen würden«, sagt
er jetzt und stößt den Skistock in den Schnee.
Lillian schweigt einen Augenblick. »Sie müssen mich verstehen«, sagt
sie dann, »aber ich muss jetzt weiter, in der Hütte wartet man auf mich.« Sie
nickt den beiden Männern kurz zu und setzt ihren Weg fort. Die Deutschen
bleiben stehen und schauen ihr nach.
Auf der anderen Seite des Sees angekommen, erzählt sie ihrem Vater
von der Begegnung, und dass es schon merkwürdig gewesen sei, dass dieser
Teschner und der andere sie einfach angehalten hätten. »Nun, etwas aufdringlich
ist es ja«, erwidert ihr Vater, »aber vielleicht sehen sie das anders. Ich habe
das Gefühl, es sind nette Menschen, die sicher lieber in ihrem eigenen Land
wären. Ich hätte deshalb gerne, dass du und Pus morgen mitkommen.«
Annie, die gar nicht begeistert war, als sie hörte, dass die Deutschen
am Vormittag tatsächlich zu Besuch gekommen sind, geht das jetzt zu weit.
»John, es sind deutsche Soldaten, warum musst du nun auch noch mit ihnen Ski
laufen, das ist wirklich übertrieben!«
John schaut sie ruhig an. Erst nach einer kleinen Pause sagt er:
»Annie, für mich sind das zunächst einmal Menschen. Einer von ihnen hat gerade
seine Frau verloren. Ich versuche mich in seine Situation zu versetzen, und ich
habe einfach Mitleid mit ihm. Du bist doch sonst auch mitfühlend!«
Annie ist mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Ja, ich kann das sehr
gut nachempfinden, aber es sind nun mal deutsche Soldaten. Und du weißt, was
unsere Freunde und Nachbarn über sie denken. Ich habe Angst, dass man schlecht
über uns spricht, wenn wir zu viel Kontakt mit diesen Männern haben. Die
anderen wissen ja schließlich nicht, was diesem Teschner in Deutschland
passiert ist.«
John nickt. Er kann Annie verstehen. Und trotzdem ist er in diesem
Moment davon überzeugt, dass er mit der Einladung das Richtige getan hat.
Abbringen lassen will er sich davon nicht. Auch nicht von seiner Frau.
Die Crotts unterm Hakenkreuz
1937 bekommt Heinz Crott, der Vater meines Vaters, die
Zeichen der neuen Zeit zu spüren. Er wird seine Stellung bei der Reichsbahn
verlieren, weil er mit einer Jüdin verheiratet ist.
Ihre Liebe geht bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück.
Heinz Crott hat Carola Callmann in Hagen in der Tanzstunde kennengelernt,
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