Erzaehl es niemandem
Abfalleimer. Die Treppe zum zweiten Stock endet in einem langen dunklen
Korridor. In besseren Tagen hatte hier oben einmal das Hotel »Royal« seinen
Platz gehabt. Jetzt steht an der Tür auf Deutsch: »Geschäftszimmer«.
Lillian soll sich beim Adjutanten des Stadtkommandanten melden. Der
Mann reicht ihr ein Formular zur Unterschrift, das sie über ihre
Schweigepflicht belehrt.
»Sie schickt der Himmel, Fräulein Berthung! Mir fehlen nämlich Leute
zum Übersetzen. Dienstzeit von 9 bis 17 Uhr. Mittags machen wir zwei Stunden
zu. Hoffe, dass Sie sich rasch einarbeiten. Alles Gute, Heil Hitler und auf
Wiedersehen bis morgen früh, Punkt 9 Uhr.«
Im Geschäftszimmer der Kommandantur arbeitet auch Erik Ulvall, der
ebenfalls Deutsch spricht. Ulvall ist etwas älter als Lillian und genau wie sie
zu einem neunmonatigen Arbeitseinsatz verpflichtet. Er ist sehr wütend über
diese Zwangsverpflichtung, denn sie verhindert, dass er mit seinem Studium beginnen
kann. Er hasst den Arbeitsdienst, und die deutschen Besatzer hasst er sowieso.
Als Helmut von Lillians neuem Arbeitsplatz erfährt, ist er alles
andere als begeistert. Er kennt seine Kameraden und weiß, dass eine Frau wie
Lillian nicht lange von Anzüglichkeiten und Belästigungen verschont bleiben
wird. Helmuts Befürchtungen erweisen sich nicht als grundlos. Das merkt Lillian
nur allzu bald.
Zudem belasten sie die Erwartungen von Ulvall, der immer wieder von
ihr wissen will, ob sie seine Wut auf die Deutschen auch teilt. Er soll auf
keinen Fall etwas von Helmut erfahren, nimmt sich Lillian vor. Umso größer ist
ihr Entsetzen, als Ulvall sie eines Tages am Ärmel festhält: »Man sagt, dass du
einen Freund hast. Einen deutschen Soldaten. Jetzt weiß ich nicht, auf welcher
Seite du stehst und was ich von dir denken soll.« Lillian überlegt einen
Augenblick. Sie windet sich aus seinem Griff und sagt: »Nicht alle Deutschen
sind für Adolf Hitler.«
Lillian und Helmut haben inzwischen einen neuen Ort
gefunden, an dem sie sich treffen können. Es ist die Hütte am Steinsåsvann.
Lillian hat heimlich einen Schlüssel nachmachen lassen. Sie fahren mit dem
Fahrrad bis zum See, verstecken die Räder und rudern zur Hütte. Helmut hat wie
immer für Proviant gesorgt und natürlich auch die Leberwurstbrote nicht
vergessen. Die Vorhänge lassen sie lieber geschlossen und den Kamin kalt. So
sieht es unbewohnt aus.
Auf der Kommandantur
Herbst 1943
Abbildung 20
Im Geschäftszimmer der Stadtkommandantur stehen sich die
Schreibtische von Lillian und Erik Ulvall gegenüber. Der graue Telefonapparat
ist zwischen den beiden platziert. Alle Gespräche gehen über die
Heeresvermittlung in Harstad. Jeden Morgen meldet sich dieselbe harte
Soldatenstimme mit den Wetterinformationen zu den Orten an der Küste. Lillian
und Ulvall müssen diese Meldungen sofort an die Marinestützpunkte auf den
Inseln weiterleiten. Ansonsten bestehen ihre Aufgaben vor allem in
schriftlichen Übersetzungen von Erlassen, Befehlen und Anordnungen.
Die Schreibtische sind durch eine Schranke vom Rest des Raumes
abgetrennt. Dahinter warten die Menschen aus Harstad darauf, dass ihre Angelegenheiten
geregelt werden. Mal geht es um Schadenersatz für beschlagnahmtes Eigentum, mal
um Streitigkeiten um Grundstücke, Häuser und Hütten. Oder um das Holz in den
Wäldern, das die Wehrmacht für sich beansprucht.
Das Übersetzen der Dokumente ist für Lillian schon schwer genug.
Aber den richtigen Ton bei den Streitereien zu treffen ist noch schwieriger.
Die norwegischen Bauern und Fischer sind oft sehr aufgebracht und gebrauchen
heftige Schimpfwörter. Für die Deutschen muss Lillian dann alles so ausdrücken,
dass es einigermaßen annehmbar klingt.
Viele Norweger kommen auch zur Stadtkommandantur, um nach Arbeit zu
fragen. Die Kantinen sind dabei besonders begehrt, denn die Lebensmittelkarten
bieten einfach zu wenig, um über die Runden zu kommen. Schneiderinnen fragen, ob
es Uniformen zu nähen gibt, Schuster wollen Stiefel flicken, Sattler Geschirre
und Verdecke machen, und wer gar nichts kann, kommt mit einem Putzeimer und
seinem Schrubber. Die Menschen in Harstad brauchen Arbeit, weil mittlerweile
alle Fischfabriken im Hafen geschlossen haben. Es gibt einfach nicht mehr
genügend Fisch zum Verarbeiten. Das verminte Meer ist für die Fischer zu
gefährlich geworden und die wenigen Heringe, die trotzdem noch gefangen werden,
nehmen sich die Deutschen.
»Wir können doch nicht alle nach Schweden
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